Gänseblümchen wächst aus vertrocknetem Boden (Symbolbild)
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Blume wächst aus vertrockneter Erde (Symbolbild)

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Sind wir all den Krisen noch gewachsen?

Corona, Ukraine, Klimawandel, Demokratie zersetzende Bewegungen - aktuell häufen sich die Krisen. Leben wir vielleicht sogar in den krisenhaftesten aller Zeiten? Auf Spurensuche mit der Historikerin Hedwig Richter und dem Ethiker Nikil Mukerji.

Corona-Pandemie, Klimawandel, der Krieg in der Ukraine, … Genug gleichzeitige Krisen, um Gesellschaften und politische Systeme ins Wanken zu bringen. Oder? Für die Historikerin Hedwig Richter, von der Universität der Bundeswehr München, ist dieser Blick auf das aktuelle Geschehen zu pessimistisch. Die Situation sei, gerade im historischen Vergleich, nicht so dramatisch, wie häufig angenommen.

Insbesondere Vergleiche mit dem Ersten Weltkrieg, dem Zweiten Weltkrieg und dem Faschismus würden helfen, die Wahrnehmung ins richtige Licht zu rücken. "Meistens hilft der Blick in die Geschichte dabei, festzustellen, dass man die aktuelle Situation ein bisschen dramatisiert", so Richter.

Krise heißt Abschied von gewohnten Grundsätzen

Aber was ist eigentlich eine Krise? Nikil Mukerji, Philosoph an der Ludwig-Maximilians-Universität München, unterscheidet hier zwischen Lebenskrise, individueller Krise und zwischenmenschlichen Krisen. Sie alle und somit auch die großen gesellschaftlichen Krisen, haben gemeinsam, dass etwas passiert sein muss, das, zumindest subjektiv, unvorhergesehen ist. Zudem müsse durch dieses unvorhergesehene Ereignis ein Schaden entstanden sein.

Eine weitere Eigenschaft, so Mukerji, sei, dass die Krise Handlungsbedarf erfordere. Das plötzliche Auftauchen einer Pandemie etwa, erfordere Maßnahmen wie Mundschutz und Abstandsregeln. Das Problem sei jedoch, dass die Gesellschaft in dem Moment noch nicht genau wisse, wie sie damit umgehen solle und welche Maßnahmen sinnvoll sind und welche nicht. Es dominiere die Unsicherheit, so Mukerji: "In Krisen typischerweise so, dass man mit irgendeinem liebgewordenen Grundsatz brechen muss."

Der Truthahn-Fehlschluss

In diesem Zusammenhang komme der sogenannte Truthahn-Fehlschluss zum Tragen, so Mukerji: "Der grundlegendste Denkfehler, den Sie machen können, ist, dass Sie glauben, dass es eine Krise gar nicht geben wird." Auf politischer Ebene bedeute dies, dass sich Institutionen und Gesellschaft, wie ein Truthahn bei einem Landwirt im Stall, verhielten. Der Landwirt bringt dem Truthahn täglich Futter und dieser blende die Angst vor dem Landwirt solange aus, bis es zu spät sei und der Truthahn geschlachtet wird.

Im Grunde entstünden Krisen erst dadurch, dass man gesellschaftlich nicht darauf vorbereitet sei, weil man eine derartig krisenhafte Situation noch nie zuvor erlebt habe. Als Beispiel diene da vor allem die Klimakrise, aber auch neue Pandemien, Kriege in meist friedlichen Regionen oder eine Inflation, in von Wohlstand geprägten Regionen.

Ölkrise der 1970er Jahre

Hier widerspricht Historikerin Richter, indem sie sagt, die Gesellschaft könne durchaus von der Geschichte, wie der Ölpreiskrise in den 1970ern, lernen. Damals habe die Politik der Bevölkerung deutlich gemacht, dass jetzt Handlungsbedarf bestehe und die Bevölkerung aktiv etwas tun müsse, um mit der Situation umzugehen - nämlich sparen.

Dennoch betont Richter an dieser Stelle, dass das eigentliche Problem auch damals schon nicht wahrgenommen worden sei. Eine Art Truthahn-Fehlschluss lag also auch bei der Ölkrise vor: Die Zerstörung des Planeten durch die starke Nutzung fossiler Brennstoffe. Richter stellt fest, dass die vielen kleinen und unmittelbaren Krisen aktuell die volle Aufmerksamkeit der Gesellschaft einfordern und sie dabei von der viel größeren, wahren Krise ablenken würden, der Klimakrise.

Vergleiche mit der Weimarer Republik unzutreffend

Auf die Frage, wie man mit demokratiezersetzenden Bewegungen umzugehen habe, die sich - wie etwa die Querdenker - angesichts der Krisen bilden und ob Vergleiche mit der Weimarer Republik treffend seien, antwortet Richter, diese Vergleiche seien übertrieben. Zum einen gebe es heute ein höheres Wohlstandsniveau und zum anderen bevorzuge heutzutage die Mehrheit der Bevölkerung ein demokratisches System. Solche Vergleiche seien "kurzsichtig" und "uninformiert", so Richter.

Das Problem mit der heutigen Bewegung der Querdenker sei, dass sie Dinge glaubten, die völlig absurd seien und dann Schaden für sich und andere nach sich zögen, so Mukerji. Allerdings sei es zuweilen auch so, dass sie einen gewissen Druck erzeugen würden, auf Journalismus und Politik, die Dinge so zu kommunizieren, dass sie eben nicht instrumentalisiert werden können. "Dass man Dinge richtig erklärt, dass man versucht, auch wirklich alle in der Gesellschaft mitzunehmen".

"Angst vor der Gas-Krise: Was kommt auf Bayern zu?" Das ist auch Thema in der Münchner Runde, am Mittwoch um 20:15 Uhr, im BR Fernsehen oder im Stream auf BR24. Zu Gast sind u.a. der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger, der Vorsitzende der SPD Bayern, Florian von Brunn, und die Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm.

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