Von der türkisch-bulgarischen Grenze ist ein verstörendes Video aufgetaucht: ein junger Mann wird angeschossen.
Bildrechte: picture alliance / AA | Gokhan Balci

Die türkisch-bulgarische Grenze

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Schuss auf Flüchtling an der EU-Außengrenze

In diesem Jahr kommen wieder mehr Flüchtlinge nach Europa. Doch wie es an den EU-Außengrenzen zugeht, weiß niemand so genau: Sperrgebiet. Ein Video von der türkisch-bulgarischen Grenze wirft nun brisante Fragen auf: Ein Mann wurde angeschossen.

Es ist ein verstörendes Video, aufgenommen am 3. Oktober an der türkisch-bulgarischen Grenze mit einem Handy. Eine Gruppe junger Männer ist zu sehen. Sie sind aufgebracht, sie schreien, Steine fliegen. Dann fällt ein Schuss. Ein junger Mann, der gerade zum Wurf ausgeholt hatte, geht zu Boden, hält sich die linke Seite seines Körpers, er blutet. Die anderen Flüchtlinge versuchen, die Blutung zu stillen.

Das Video bricht hier ab, doch die Geschichte geht weiter. Der Mann heißt Abdullah, kommt in ein türkisches Krankenhaus, wird dort operiert. Dem ARD-Studio Südosteuropa, Lighthouse Reports, Sky News, Le Monde, The Times und Domani liegt der Arztbrief vor: Demnach wurde Abdullah von einem Projektil verletzt. Eine Reporterin aus dem Rechercheverbund macht ihn ausfindig, trifft ihn in der Türkei. Ihr erzählt er: "Der Arzt sagte mir, dass ich knapp überlebt habe. Die Kugel hätte mein Herz knapp verfehlt."

Hinweise auf illegale Pushbacks an der Grenze

Was war passiert? Abdullah sagt, er und andere Migranten hätten an dem Tag die bulgarische Grenze übertreten und seien von bulgarischen Grenzpolizisten festgenommen und zurück in die Türkei gebracht worden. Das wäre ein illegaler Pushback. Als ein Team der ARD in der bulgarische-türkischen Grenzregion unterwegs ist, gibt es Hinweise darauf, dass Pushbacks hier stattfinden.

Die Reporter beobachten ein Fahrzeug der bulgarischen Grenzpolizei. Es scheint ein Militärfahrzeug zu eskortieren. Mit hoher Geschwindigkeit fahren beide in Richtung Grenze. Auf der Ladefläche sind Personen zu erkennen. Dann wird die Straße zur Schotterpiste, schließlich verbieten Schilder die Weiterfahrt für zivile Fahrzeuge. Was an der Grenze passiert, bleibt im Verborgenen. Ein Einwohner des Grenzdorfes Granichar sagt, dass er an manchen Tagen schon zehn dieser Trucks gesehen habe: "Sie bringen sie dorthin zurück, wo sie hergekommen sind. Ich weiß nicht, was da passiert, aber ich sehe, wie sie sie in Fahrzeugen zurückbringen."

Bulgarische Regierung widerspricht

Das bulgarische Innenministerium geht in einer Stellungnahme zu den Vorfällen des 3. Oktober und zum Video ein. Es sei am fraglichen Tag an dieser Stelle der Grenze zu Gewalt durch Migranten gekommen. Das Ministerium schickt Bilder, auch von einem Polizeibeamten mit einer Platzwunde am Kopf. Eine bulgarisch-türkische Grenzkommission habe sich mit dem Vorfall beschäftigt, auch mit dem Video: "Es wird durch das Video nicht klar, aus welcher Richtung der Schuss abgefeuert wurde. In Verbindung mit dem Vorfall wurde eine Untersuchung durchgeführt, die zeigt, dass von unserer Seite keine Schüsse abgegeben wurden."

Gutachten: Schuss kam aus Richtung des Grenzzaunes

Eine forensische Analyse des Handyvideos im Auftrag von Lighthouse Reports kommt zu einem anderen Ergebnis: Die Ton-Untersuchung eines Experten legt demnach nahe, dass der Schuss aus der Richtung abgefeuert wurde, in die gefilmt wurde. "Die Mündungsknall-Signatur (…) stimmt mit der einer Waffe überein, die in Richtung des Aufzeichnungssystems abgefeuert wurde." (Quelle Beck Audio Forensics) Das würde bedeuten: Aus Richtung des Grenzzaunes, der im Video zu sehen ist. Das Gutachten spricht von einer Entfernung von rund 30 Metern zwischen der Waffe und dem angeschossenen Flüchtling.

Darüber hinaus sind auf einem der Videos, das die Situation vor dem Schuss zeigt, auf bulgarischer Seite ein Militärtruck und ein Land Rover Discovery zu erkennen. Beide Fahrzeuge werden von bulgarischen Einsatzkräften im Grenzgebiet genutzt.

Bulgarien will in den Schengen-Raum

Was sich Tag für Tag an der EU-Außengrenze abspielt, liegt größtenteils im Verborgenen. Das Gelände um den bulgarischen Grenzzaun ist Sperrgebiet. Klar ist: In diesem Jahr ist die Zahl der Menschen, die durch Bulgarien nach Europa kommen wollten, stark gestiegen. Laut dem bulgarischen Innenministerium waren es bis Ende November mehr als 150.000 Menschen. Vier Mal so viele wie im Vorjahreszeitraum.

Unterdessen hat die EU-Kommission Bulgarien im November bescheinigt, beim Grenzschutz viel Engagement zu zeigen und dem hohen Migrationsdruck effektiv entgegenzutreten. Einen besonderen Fokus lege das Land dabei auf die Einhaltung von Grundrechten. Bulgarien will in den Schengen-Raum aufgenommen werden. An diesem Donnerstag sollen die EU-Innen- und -Justizminister darüber entscheiden.

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