Falls jemand noch Zweifel gehabt haben sollte, dass CSU-Generalsekretär Martin Huber zu scharfen Verbalattacken fähig ist, ist er oder sie jetzt schlauer. "Die Ampel betreibt mit ihrem Vorschlag zur Wahlrechtsreform organisierte Wahlfälschung", polterte Huber am Montag auf Twitter. "Direkt gewählten Abgeordneten den Einzug ins Parlament zu verweigern, kennen wir sonst nur aus Schurkenstaaten." Die Ampel" lege damit "die Axt an unser demokratisches Fundament".
Selten stieß ein Huber-Tweet auf so viel Resonanz wie dieser. Auch mehr als 24 Stunden später kamen noch weitere empörte Politiker-Reaktionen hinzu.
FDP-Politiker Vogel: "Unter Demokraten ein No-Go"
Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Johannes Vogel, kritisierte: "Die CSU vergreift sich in einer Art und Weise im Ton, die unter Demokraten ein No-Go ist." Der FDP-Politiker verwies auf den Sturm auf das US-Kapitol durch Anhänger von Donald Trump und den Sturm auf das brasilianische Kongressgelände durch Sympathisanten des rechtsradikalen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro: Das zeige, "wohin das führen kann, wenn man so was in die Köpfe von Leuten pflanzt".
Der bayerische Grünen-Landeschef Thomas von Sarnowski warf Huber "verbale Entgleisungen" vor, die "Gift für die Demokratie" seien. Nach Meinung der parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, Katja Mast, ist Hubers Rhetorik "unverantwortlich und geht zu weit".
Wahlrechtsreform hätte Folgen für CSU-Direktkandidaten
Die Ampel-Fraktionen hatten am Wochenende ihren Entwurf für eine Wahlrechtsreform fertiggestellt – mit dem Ziel, dass sich der Bundestag wieder auf seine Regelgröße von 598 verkleinert. Der Vorschlag sieht die Abschaffung der Überhang- und Ausgleichsmandate vor. Durch diese war der Bundestag immer weiter gewachsen, auf zuletzt 736 Abgeordnete.
Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mit den Erststimmen mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr nach Zweitstimmen Bundestagsmandate zustehen. Davon profitierte zuletzt vor allem die CSU. Um das Zweitstimmenverhältnis weiter korrekt abzubilden, bekommen die anderen Parteien dann Ausgleichsmandate. Der Ampel-Entwurf könnte zur Folge haben, dass mit nur wenigen Stimmen gewählte Direktkandidaten keinen Sitz im Bundestag erhalten. Die Zweitstimme würde zur "Hauptstimme".
Bei der Bundestagswahl 2021 zogen 45 CSU-Politiker als direkt gewählte Abgeordnete sofort in den Bundestag ein, obwohl den Christsozialen nach ihrem Zweitstimmenanteil eigentlich nur 34 Mandate zugestanden wären. Die elf Überhangmandate der CSU wurden dann durch zusätzliche Sitze für andere Parteien anteilig ausgeglichen.
Scheuer und Müller wären nicht im Bundestag
Mit einem Wahlrecht, wie es die Ampel vorschlägt, hätten 2021 elf direkt gewählte CSU-Politiker auf einen Sitz im Bundestag verzichten müssen – jene mit dem schlechtesten Erststimmen-Ergebnis. Unter ihnen wären prominente Christsoziale wie Ex-Bundesminister Andreas Scheuer (Passau) und der parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Stefan Müller (Erlangen).
Auch Müller kritisierte den Ampel-Entwurf scharf. "Gewählten Wahlkreiskandidaten das Mandat zu verweigern, ist eine eklatante Missachtung des Wählerwillens und des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips", sagte er dem Nachrichtenportal "The Pioneer". Somit sei der Vorschlag verfassungswidrig. Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber zeigte sich "entsetzt" über den Entwurf der Berliner Koalition: "In der ganzen Welt Demokratie einfordern und in Deutschland mit Füßen treten!"
FDP verlangt von Huber Entschuldigung
Auf Unmut bei den Ampel-Parteien stieß aber besonders die Attacke von CSU-Generalsekretär Huber. Bayerns FDP-Landeschef Martin Hagen warf der CSU vor, sich mit ihrer Wortwahl auf das Niveau von Rechtspopulisten zu begeben. "Wer von Wahlfälschung und Schurkenstaaten spricht, diffamiert und delegitimiert unser demokratisches System", beklagte er. "Pfui Teufel!" Für diese "unsägliche Entgleisung" müsse der CSU-Generalsekretär sich entschuldigen. Die mittelfränkische Bundestagsabgeordnete Kristine Lütke bezeichnete Hubers Tweet als "populistisch und gefährlich": "So eine Wortwahl kennen wir sonst nur von Trump & Co."
FDP-Parlamentsgeschäftsführer Vogel rief die Union auf, das Gesprächsangebot über den Gesetzentwurf der Ampel-Fraktionen anzunehmen. "Wir können über alles reden, aber was keine Option ist, dass es bei einem XXL-Bundestag bleibt." Bei dem Reformvorschlag der Koalition werde Fairness gewahrt, "nämlich dass alle Fraktionen bei der Verkleinerung gleich proportional davon betroffen sind", sagte Vogel.
Grüne verweisen auf bayerische Verfassung
Grünen-Landeschef Thomas von Sarnowski twitterte, inhaltlich sei Hubers Kritik "Nonsense": Gewählt wären Bundestagsabgeordnete nach dem Ampel-Entwurf erst bei ausreichender Hauptstimmen-Deckung. "Der Vorschlag verlangt allen Parteien gleich viel ab. Für jedes Überhangmandat entfallen entsprechend Ausgleichsmandate."
Nach Meinung des bayerischen Grünen-Landtagsabgeordneten Florian Siekmann sollte Huber Artikel 14 der bayerischen Verfassung lesen. Dort stehe, dass mit Mehrheit gewählte Stimmkreiskandidaten in Bayern nicht ins Parlament kämen, wenn die Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitere. "Auch hier wird der Einzug ins Parlament verweigert."
SPD: "Mini-Bolsonaro vom Isarstrand"
Der Fürstenfeldbrucker SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Schrodi bezeichnete den CSU-Politiker Huber als "Mini-Bolsonaro vom Isarstrand". Die "Regionalpartei" CSU wolle "lediglich Übervorteilung behalten". Eine Gleichsetzung von "Egoismus und Demokratie" warf der SPD-Abgeordnete Frank Schwabe der CSU vor.
Söder will klagen - vielleicht sogar doppelt
CSU-Chef Söder kommentierte Hubers Wortwahl nicht direkt, schloss sich aber der Kritik an. "Die Vorschläge der Ampel sind aus unserer Sicht verfassungswidrig." Die bayerische Staatsregierung werde deswegen dagegen klagen, die CSU – soweit es rechtlich möglich sei – ebenfalls. Söder warf der Koalition ein "rein politisch motiviertes Vorgehen" vor. "Das Ziel ist ja ganz klar: Die Union und ganz besonders Bayern zu schwächen."
Nach Meinung des bayerischen Ministerpräsidenten würde der Wähler "sozusagen entmündigt". Er wisse gar nicht mehr, ob der, den er wähle, auch eine Chance habe, ins Parlament zu kommen. Das sei nicht demokratiefreundlich. Bisher gebe es eine Gleichberechtigung von Erst- und Zweitstimme. Im Ampel-Entwurf werde die Erststimme eindeutig entwertet. "Und das ist dann eine Entwertung von direkter Demokratie", sagte Söder.
Union bietet Gespräche an
Auch der CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, Alexander Dobrindt, lehnte den Gesetzentwurf zwar strikt ab, weil er "verfassungswidrig und "nicht zustimmungsfähig" sei. Zugleich bot er aber SPD, Grünen und FDP "ernsthafte Gespräche" über eine Wahlrechtsreform an.
Der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), rechnet nach eigenen Worten damit, dass es in der laufenden Woche Gespräche der Fraktionsvorsitzenden zu dem Thema geben werde. Auch er drohte damit, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, "sollte der derzeitige Entwurf Gesetz werden". Der CDU-Politiker plädierte für eine Diskussion über Änderungen im geltenden Wahlrecht, unter anderem bei der Zahl der Wahlkreise.
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