Archivbild: Leeres Klassenzimmer einer Grund -und Mittelschule in Germering bei München.
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Schulen wegen Corona zu: "Ein Fehler" – aber wer ist schuld?

Der Schaden durch Corona-Schulschließungen ist längst unstrittig – jetzt sucht Deutschland die Schuldigen. RKI-Chef Wieler macht die Politik verantwortlich, Minister Lauterbach die Wissenschaft, Ex-Minister Spahn Bayerns Ministerpräsidenten Söder.

Es war eine düstere Prognose: "Praktisch bedeuten die Kinderstudien folgendes: Regulärer Unterricht fällt für mindestens ein Jahr aus", twitterte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach Anfang Mai 2020. "Das kann jetzt als epidemiologisch sicher gelten. Daran ändern weder Apps noch Masken etwas. Es ist die Übertragung durch Aerosole und Kontakte im Klassenraum." Statt über Öffnung zu diskutieren, müssten die Bundesländer daher Homeschooling für das nächste Schuljahr organisieren.

  • Zum Artikel: "Wütend, traurig, verschlossen: Kinder unter psychischem Druck"

Deutsche Schulen 183 Tage teils oder ganz geschlossen

Es kam nicht genau so, aber ähnlich. Zwar waren die deutschen Schulen in den folgenden Monaten vorwiegend geöffnet, Ende 2020 war aber wieder Schluss mit Präsenzunterricht. Laut einer OECD-Studie waren die Schulen in Deutschland zwischen Januar 2020 und Mai 2021 insgesamt 74 Tage vollständig und 109 Tage teilweise geschlossen. Macht insgesamt also 183 Tage – das entspricht einem gesamten Schuljahr (ohne Ferien und Feiertage). Weitere Corona-Maßnahmen im Schulbetrieb waren eine Maskenpflicht im Klassenzimmer, Quarantäne- und Isolationspflicht sowie regionale Schließungen bei hohen Inzidenzwerten.

Mittlerweile sieht der heutige Bundesgesundheitsminister Lauterbach die generellen Schulschließungen kritisch: Im Nachhinein betrachtet sei es ein Fehler gewesen, "die Schulen und die Kitas so lange geschlossen zu halten", sagte er diese Woche im ARD-"Morgenmagazin". Darin stimmt der Bundesminister mittlerweile mit vielen Experten und anderen Spitzenpolitikern überein – bei der Frage, wer für diesen "Fehler" verantwortlich war, gehen die Meinungen aber weit auseinander. Deutschland diskutiert über Schuld und Schule.

Lauterbach: "Wissenschaft nicht gut genug"

Lauterbach wurde erste Ende 2021 Gesundheitsminister – war bei den bundesweiten Schulschließungen also noch nicht im Amt. Aber er war als SPD-Gesundheitsexperte nicht nur medial sehr präsent, sondern zählte auch zu den Beratern der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei Corona-Fragen. Inzwischen macht Lauterbach für die Schulschließungen die Wissenschaft verantwortlich: Die Maßnahme sei damals "von den Wissenschaftlern, die die Bundesregierung beraten haben, angeraten" worden. Die Wissenschaft sei "nicht gut genug" gewesen.

Der Widerspruch ließ nicht lange auf sich warten. Zwar stimme die These, "dass lange Schulschließungen falsch waren", schrieb der frühere nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) auf Twitter. "Die These, dass 'DIE' Wissenschaft dazu geraten habe, ist schlicht falsch." Lauterbach als TV-Dauergast habe es propagiert, twitterte Laschet. "Andere haben damals gewarnt, auch viele Wissenschaftler. Wollte niemand hören." Es folgt der Hashtag "MPK" – ein Hinweis auf die Ministerpräsidentenkonferenz, die lange Zeit über Corona-Einschränkungen bestimmte.

RKI-Chef Wieler: "Es gab immer Alternativen"

Anders als Lauterbach sieht es auch der scheidende Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler. Er betonte vergangene Woche in der "Zeit": "Wir haben immer Empfehlungen abgegeben, mit denen man den Betrieb in Schulen und Kitas hätte laufen lassen können, wenn auch unter Anstrengung."

Wieler fügte hinzu: "Es gab nie nur die Alternative: Entweder wenige Tote oder Schulen offen halten, sondern es gab und gibt immer Alternativen." Zu entscheiden, wie drastisch Schutzmaßnahmen ausfallen, sei Aufgabe der Politik. Allerdings gibt es auch weiter Experten, die die Schulschließungen im Rückblick für richtig halten, weil damit viele Infektionen vermieden worden seien. 

Freie Wähler: "Unwissenschaftliches Vorgehen"

Die bayerische Freie-Wähler-Gesundheitsexpertin Susann Enders wirft den damaligen Entscheidern dagegen "unwissenschaftliches Vorgehen" vor. Schließungen seien aufgrund eines "theoretischen Werts", der Sieben-Tage-Inzidenz, erfolgt, den Politiker kompromissbereit mal "ein bisschen nach oben oder nach unten" verhandelt hätten, kritisiert Enders bei BR24. "Man versprach sich einen großen Schutz der 'Älteren', wenn man die Schüler für Wochen und Monate zu Hause lässt." Das habe fatale Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen gehabt.

"Vielleicht sollte man auch in der Politik öfter mal auf eine Krankenschwester hören, als sich von Angst und Panik leiten zu lassen", sagt die gelernte Krankenschwester Enders. Allerdings gehört zur Wahrheit, dass ihre Freien Wähler in der Koalition mit der CSU die Schulschließungen in Bayern mittrugen – und mit Michael Piazolo auch den Kultusminister stellen.

Deutliche Worte an die Adresse der damals politisch Verantwortlichen kommen auch vom bayerischen FDP-Landeschef Martin Hagen: "Die langen Schulschließungen waren ein Fehler", twitterte er. "Wer es damals schon richtig gesehen hat, wurde diffamiert. Ich hoffe, man lernt daraus für die Zukunft!"

Spahn macht Söder mitverantwortlich

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) verfolgte in den ersten Corona-Wellen einen besonders strengen Kurs, oft waren die Maßnahmen schärfer als in anderen Bundesländern. Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn machte im vergangenen Jahr in seinem Buch "Wir werden einander viel verzeihen müssen" (Heyne Verlag) den bayerischen Ministerpräsidenten sogar maßgeblich für die ersten bundesweiten Schulschließungen im März 2020 verantwortlich – die aus Sicht des CDU-Politikers "nicht nötig gewesen" wären.

Beim ersten Corona-Gipfel von Bund und Ländern am 12. März 2020 wurde laut Spahn einstimmig beschlossen, dass es lediglich regionale Schulschließungen geben solle - je nach Lage vor Ort. Am nächsten Morgen habe Söder die Schließung aller Schulen in Bayern verkündet - woraufhin alle andere Bundesländer nachgezogen seien. Es sei eine Dynamik in Gang gesetzt worden, "die sich nicht mehr bremsen ließ". Gleich mehrfach beklagt Spahn in seinem Buch Versäumnisse der Politik gegenüber Kindern und Familien, die zu den Haupt-Leidtragenden der Lockdown-Politik gehört hätten. Dafür könne er nur um Verzeihung bitten.

Zwar räumte auch der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) zuletzt ein, dass "der Einfluss von Isolation und Schulschließungen auf Jugendliche und Kinder schon schwierig war". Grund für eine Entschuldigung sieht er aber nicht. Maßstab sei gewesen, Menschenleben zu schützen. "Und im Großen und Ganzen ist uns das, glaube ich, auch gut gelungen."

Elternverband: Es gab immer auch besorgte Eltern

Waren also alle Corona-bedingten Schulschließungen falsch, schlechte Entscheidungen der Politik? So einfach sei es nicht, findet Henrike Paede vom Bayerischen Elternverband. "Es gab in der Elternschaft auch immer diejenigen, die vehement um Schutz gebeten haben", sagt sie auf BR24-Anfrage. Bis heute gebe es solche vorsichtigen Eltern, auch wenn es sich um eine Minderheit handle. Paede zufolge waren die Rückmeldungen beim Elternverband allerdings nicht unbedingt repräsentativ: "Immer wenn in dieser Corona-Zeit eine Lockerung in Sicht war, kam ein Schwall an Protesten. Diejenigen, die mehr Präsenzunterricht gut fanden, haben sich natürlich nicht gemeldet." 

Paede betont aber auch, dass die Schulschließungen aus sozialer und psychischer Sicht für die meisten Kinder nicht gut waren. "Wir lesen beim Elternverband natürlich die vielen Studien dazu", sagt sie. "Und das erfüllt uns mit Sorge." Spätestens 2021, nach den ersten Impfungen und mit mehr Wissen über das Virus, hätte man anders mit Einschränkungen des Schulbetriebs umgehen müssen. Ob Politik und Gesellschaft aus der Corona-Zeit genug gelernt haben für eine mögliche nächste Pandemie? "Man wird in jedem Fall sehr viel genauer hinschauen, bevor man eine Schule oder Kita schließt."

Experte: "Schuldzuweisungen bringen nicht weiter"

Der Münchner Epidemiologie und Jugendmediziner Rüdiger von Kries hält von der Suche nach Sündenböcken wenig. "Natürlich hätten einige Dinge besser gemacht werden sollen, aber Schuldzuweisungen bringen nicht weiter."

Einen Seitenhieb gegen die Politik formuliert von Kries dennoch: "Pandemiebekämpfung ist keine Spielwiese zur politischen Profilierung von Provinzfürsten und Fachministern." Er selbst habe schon 2021 gewarnt, dass die Politik für die Kinder gefährlicher sei als Covid. "Dass Kinder Schaden genommen haben, steht nicht erst seit heute außer Zweifel." Die durch die Corona Politik bedingten Bildungsdefizite betreffen laut ihm besonders Kinder in prekären Verhältnissen.

"Schulschließungen waren schlecht begründet"

Dem Experten zufolge, der auch der Ständigen Impfkommission angehört, waren die Schulschließungen schlecht begründet. "Was sollte erreicht werden? Schutz der Kinder vor schweren Erkrankungen – die waren selten und wurden im Verlauf der Pandemie immer seltener. Der Schaden für ihre psychische Gesundheit war schon nach wenigen Monaten methodisch gut nachgewiesen. Schutz der Allgemeinbevölkerung – dazu wurden keine überzeugenden Daten erhoben."

Laut von Kries sollten bei der rückblickenden Bewertung von Maßnahmen die unterschiedlichen Phasen der Pandemie berücksichtigt werden. Für einen Wendepunkt hält er die Impfung. "Die zügige Impfung der älteren Menschen und Risikopersonen war eine eminente Leistung der Politik, der Institutionen und der Ärzteschaft und wird viel zu wenig gewürdigt. Nachdem die besonders gefährdeten älteren Menschen geimpft waren, entfiel das wesentliche Argument, die Freiheiten für Kinder zu limitieren." Der Experte fordert, jetzt den Blick nach vorn zu richten: "Man muss sehen, dass man für die Zukunft Strukturen schafft, die die Politik verpflichten, evidenzbasiert zu entscheiden."

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