Wenn Politiker inhaltlich überholte Nachrichtenartikel posten.
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"Recycling News": Keine Fakes und dennoch Manipulation

Häufig teilen Nutzer alte oder veraltete Nachrichtenartikel in sozialen Netzwerken, die dort für viele Interaktionen sorgen. Es handelt sich dabei nicht um klassische Falschmeldungen, doch die Wirkung ist vergleichbar.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Zündfunk am .

Der "Islamische Staat" plane Anschläge in Deutschland. Das twittert der AfD-Landtagsabgeordnete Uwe Junge aus Rheinland-Pfalz am 28. Dezember 2018. Die Meldung klingt alarmistisch, vor allem weil der IS Ende 2018 in Syrien und dem Irak kein Staat mehr ist und militärisch am Boden liegt. Weit über 600 Mal wird der Tweet des AfD-Politikers geteilt, hundertfacht kommentiert.

Das Problem: Der Artikel, den Uwe Junge verlinkte, war zu diesem Zeitpunkt schon fast vier Jahre alt. Die Behörden gehen mittlerweile davon aus, dass der IS-Terrorist, der Deutschland drohte, durch einen Drohnenangriff getötet wurde.

Ein weiteres Beispiel: Anfang diesen Monats teilt die Grünen-Politikerin Renate Künast einen Artikel über die AfD und die Erkenntnis, dass gegen jeden zehnten Bundestagsabgeordneten der Partei ermittelt wird oder er in der Vergangenheit belangt wurde. Der Artikel ist rund ein Jahr alt, als Künast ihn teilt. Auch dieses Posting wird hunderte Male geteilt, geliked und kommentiert.

Stimmungsmache mit alten Artikeln - häufig "von rechts"

Es gibt zahllose Beispiele dafür, dass mit veralteten Nachrichtentexten in den sozialen Netzwerken Stimmung gemacht werden soll, meint Karolin Schwarz, Faktencheckerin und Expertin für Falschmeldungen, die auch für den faktenfinder der ARD schreibt. Ihr sei das Phänomen schon vor Jahren aufgefallen – sie nennt es "Recycling".

Besonders ein Themenbereich werde immer wieder aufgegriffen, nämlich "Meldungen zu Geflüchteten-Zahlen von 2015 beispielsweise. Die werden einfach nochmal gepostet ohne den Hinweis, dass die Artikel schon mehrere Jahre alt sind", so Schwarz. Weil die Themenbereiche der "Recycling"-Artikel so häufig Asyl, Islam oder Innere Sicherheit betreffen würden, geht Schwarz davon aus, dass die Mehrzahl der Posts "im rechtspopulistischen und rechtsextremen Milieu zu verorten" sei. Schwarz betont, dass es bisher noch keine tiefgreifenden Studien zu dem Thema gebe, die Beobachtung von deren Experten jedoch geteilt wird.

Recycling alter Artikel - Wirkung wie Falschmeldungen

Es handelt sich bei "Recycling"-Artikeln also nicht um sogenannte "Fake News", also gezielte Falschmeldungen, da die Nachrichten selbst stimmen – oder vielmehr: gestimmt haben. Eben zu dem Zeitpunkt, als die Nachricht das erste Mal veröffentlicht wurde. Durch die Interaktionen, die sie hervorrufen, haben sie jedoch eine vergleichbare Wirkung, wie "Fake News": Sie manipulieren die Nutzer.

Ob Uwe Junge von der AfD oder Renate Künast von den Grünen manipulieren wollten, hätten wir gerne direkt von den beiden Politikern erfahren. Künast reagierte auf BR-Anfrage nicht. Junge teilte mit: "Selbstverständlich war klar, dass dieser Artikel schon älter war". Auf die Frage, weshalb er den Text dennoch ohne Hinweis auf das Alter geteilt hat und ob er bewusst manipulieren wollte, antwortete der AfD-Abgeordnete nicht.

Dummheit oder Manipulation?

Unbestritten sei jedoch, so Expertin Schwarz, dass veraltete Nachrichtenartikel in sozialen Netzwerken für Aufsehen sorgen. Ob "bewusst gesteuert oder aus Dummheit" will Schwarz nicht endgültig beurteilen, da man jeden Fall für sich betrachten müsse. Schwarz sieht vielmehr Verlage und Plattformen in der Pflicht, "alte Artikel in irgendeiner Form zu kennzeichnen".

Ein Vorbild dafür kommt aus Großbritannien. Die britische Tageszeitung "The Guardian" hat im April beschlossen, alle älteren Beiträge in einer auffälligen gelben Farbe zu kennzeichnen. Sowohl auf der eigenen Homepage als auch in den sozialen Netzwerken, wenn dort Artikel geteilt werden. Der Guardian habe wahrgenommen, dass ältere Artikel geteilt wurden, um "spezifische Ziele" zu verfolgen. Also um zu manipulieren

Deutsche Verlage: Phänomen der "Recycling-Artikel" ist bekannt

In Deutschland kennen reichweitenstarke Verlage das Phänomen des "Recyclings" alter Nachrichtenartikel – und sie wissen, dass damit Stimmung gemacht wird. Torsten Beeck von Spiegel Online spricht auf Anfrage von "Einzelfällen". Eine deutliche Kennzeichnung, wie der Guardian sie vornimmt, plane man nicht. Sollte sich jedoch "das Aufkommen solcher Manipulationen in Zukunft häufen", so Beeck, werde man das Thema neu bewerten. Ähnlich antwortet auch die Süddeutsche Zeitung.

Vom Springer-Verlag, der mit "Welt" und "BILD" zwei große Online-Marken hält, heißt es, dass das Phänomen bekannt sei, man aber die Plattformen in der Pflicht "ihren Algorithmus dafür zu sensibilisieren". Focus Online antwortete nicht auf die Anfrage des BR.

Öffentlich-rechtliche Sender seltener betroffen

Öffentlich-rechtliche Sender betreiben mit Angeboten wie BR24 oder Tagesschau.de ebenfalls Nachrichtenseiten. Hier jedoch tritt das Phänomen deutlich seltener auf. Der Grund dafür liegt in der sogenannten Depublikationspflicht. Öffentlich-rechtliche Anstalten müssen ihre Artikel nach festen Zeitvorgaben depublizieren, also löschen.

Karolin Schwarz aus Berlin beobachtet, dass "die Verlage wenig bis gar nicht reagiert" hätten und hält das für problematisch. Sie will die Plattformbetreiber aber nicht aus der Verantwortung nehmen, da es "technisch derzeit problemlos möglich wäre", alte Artikel zu kennzeichnen. Die Plattformen könnten beispielsweise, so Schwarz, sichtbar machen, wann ein Artikel zum ersten Mal auf der jeweiligen Plattform gepostet wurde. Dadurch könnten Nutzer noch einfacher sehen, ob es sich um einen veralteten Artikel handle.

Für das Phänomen der Stimmungsmache mit alten Artikeln scheint eine technische Lösung vorerst nicht in Sicht. Deshalb müssen die Nutzer genau hinschauen – gerade auch vor der Europawahl.