Kurz vor dem ersten Jahrestags des Kriegs gegen die Ukraine hat Russlands Präsident Wladimir Putin seine mit Spannung erwartete Rede zur Lage der Nation gehalten.
Das russische Staatsfernsehen übertrug die Ansprache des Kremlchefs. Sie fand im Veranstaltungszentrum Gostiny Dwor in Moskau vor Vertretern der Föderalen Versammlung statt, die sich aus der Staatsduma und dem Föderationsrat zusammensetzt.
- Zur Analyse: Déjà vu – Putins Rede offenbart kaum Neues
Putins Rede zur Lage der Nation
"Der Westen hat den Geist aus der Flasche gelassen", sagte Putin in seiner Rede zur Lage der Nation vor beiden Kammern des Parlamentes. "Die Verantwortung für die Eskalation in der Ukraine liegt bei den westlichen Eliten." Die USA seien einseitig aus Verträgen ausgestiegen. Schon vor Beginn des von Putin so bezeichneten "militärischen Sondereinsatzes" in der Ukraine habe die Regierung in Kiew mit dem Westen über Waffenlieferungen gesprochen. Der Westen habe in zynischer Weise die eigene Bevölkerung betrogen.
Russland dagegen habe sich um eine friedliche Lösung bemüht. Doch der Westen habe hinter dem Rücken Russlands ein anderes Szenario vorbereitet: "Sie haben den Krieg begonnen." Um den Krieg zu rechtfertigen, sprach er zudem von einer "geistigen Katastrophe" im Westen: Die Idee eines genderneutralen Gottes würde dort untersucht, Menschen würden zu gleichgeschlechtlichen Ehen gezwungen und Pädophilie solle zur Norm werden.
Putin: Beteiligung an New-Start-Atomwaffenvertrag wird ausgesetzt
Nach Angaben Putins setzt Russland zudem nun die Teilnahme am "New-Start-Atomwaffenvertrag" mit den USA aus. Das Land müsse bereit sein, um Atomwaffentests wiederaufzunehmen, sollten die USA das tun, sagte Putin am Dienstag. Der Vertrag dient dazu, der Vergrößerung von Atomwaffenarsenalen entgegenzuwirken.
Der Vertrag wurde 2010 von Russland und den USA unterzeichnet. Der Vertrag begrenzt die Atomwaffenarsenale beider Länder auf je 800 Trägersysteme und je 1.550 einsatzbereite Sprengköpfe. Zudem ist geregelt, dass Washington und Moskau Informationen über ihre strategischen Atomwaffenarsenale austauschen und bis zu 18 Verifikationsbesuche pro Jahr abhalten dürfen.
Moskau und Washington hatten sich zuletzt gegenseitig vorgeworfen, vertragsbrüchig geworden zu sein und Inspekteure des jeweils anderen Landes nicht mehr hinein zu lassen.
Moskau: Werden vereinbarte Atomwaffen-Obergrenze weiter achten
Putin sagte, Russland ziehe sich vorerst nicht vollständig aus dem Vertrag zurück. Dies wird auch durch eine am Dienstagabend veröffentlichte Mitteilung des russischen Außenministeriums in Moskau bekräftig. Darin heißt es: "Um ein ausreichendes Maß an Vorhersehbarkeit und Stabilität im Atomraketen-Bereich zu wahren, beabsichtigt Russland, an einem verantwortungsvollen Vorgehen festzuhalten, und wird für die Dauer der Vertragslaufzeit die von ihm vorgesehenen quantitativen Beschränkungen für strategische Offensivwaffen strikt einhalten."
Theoretisch könne die Aussetzung von "New Start" auch wieder rückgängig gemacht werden, hieß es aus Moskau nun weiter. "Dazu muss Washington politischen Willen zeigen, sich gewissenhaft für eine allgemeine Deeskalation einzusetzen und Bedingungen für die Wiederaufnahme des vollen Funktionierens des Vertrags zu schaffen (...)." Das Abkommen läuft - wenn es nicht verlängert wird - regulär im Jahr 2026 aus.
Moskau fordert Abzug von Nato-Soldaten und bestellt US-Botschafterin ein
In seiner Rede warf Putin den USA zudem ein "Theater des Absurden" vor - mit Blick darauf, dass Washington unlängst Moskau beschuldigt hatte, keine Experten zur Inspektion der atomaren Verteidigungsanlagen ins Land zu lassen. Wenn in Zeiten solcher Spannungen jemand im Westen ernsthaft erwarte, dass Russland diesen Zugang gewähre, sei das "Blödsinn", meinte Putin. Zugleich bekräftigte er, dass auch russische Inspektoren angesichts westlicher Sanktionen keine Möglichkeit zur Einreise in die USA hätten.
Auch forderte die Führung in Moskau die USA auf, "Soldaten und Ausrüstung" der Nato aus der Ukraine abzuziehen. Wie das Außenministerium am Dienstag in Moskau mitteilte, wurde die US-Botschafterin Lynne Tracy einbestellt und ihr eine entsprechende Note überreicht, die sich auf die Militärhilfe des Westens für Kiew bezieht.
"Es wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass es zum Erreichen einer Deeskalation der Situation erforderlich ist, dass Washington Maßnahmen hinsichtlich eines Rückzugs von Soldaten und Ausrüstung der USA und der Nato trifft und antirussische Aktivitäten beendet", hieß es in der Erklärung des russischen Außenministeriums.
Stoltenberg ruft Putin zu Achtung von Atomwaffen-Kontrollvertrag auf
Derweil hat die Nato Putin zur Achtung des Atomwaffen-Kontrollvertrags aufgerufen. Bündnis-Generalsekretär Jens Stoltenberg appellierte am Dienstag in Brüssel an Putin, "seine Entscheidung zu überdenken und geltende Verträge zu achten".
Zugleich wies Stoltenberg den Vorwurf Putins zurück, der Westen wolle Russland "erledigen": "Niemand greift Russland an, Russland ist der Aggressor", betonte Stoltenberg bei dem gemeinsamen Auftritt mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba und EU-Chefdiplomat Josep Borrell in Brüssel.
Putin: Westen will lokalen in globalen Konflikt verwandeln
Wie Putin in seiner Ansprache behauptete, stehe die Existenz Russlands auf dem Spiel. Der Westen versuche, einen lokalen Konflikt in einen globalen zu verwandeln, sagte er vor dem Parlament. Der Westen wolle Russland "ein für alle Mal erledigen". Zugleich versicherte Putin: "Es ist unmöglich, unser Land auf dem Schlachtfeld zu besiegen." Er zeigte sich überzeugt, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung das Vorgehen der Regierung bei der Verteidigung des Donbass unterstütze. "Ich möchte den russischen Menschen für die Entschlossenheit und den Mut danken."
Putin wolle die Offensive in der Ukraine fortsetzen. Russland werde "sorgfältig und systematisch" vorgehen und die Ziele seines Militäreinsatzes - die Bedrohung durch das angeblich neonazistische Regime beseitigen - so "Schritt für Schritt" erreichen.
Bidens Besuch in Warschau
Gleichzeitig ist US-Präsident Joe Biden heute zu Besuch in Polen. Er will dort mit Verbündeten von der östlichen Flanke der Nato sprechen. Biden war zuvor am Sonntag überraschend in die ukrainische Hauptstadt Kiew gereist, um dort Präsident Wolodymyr Selenskyj zu treffen.
Die Gespräche fallen in eine Zeit, in der der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in eine noch kompliziertere Phase eintritt. Sowohl Moskau als auch Kiew bereiten sich auf Frühjahrsoffensiven vor. Der Besuch des amerikanischen Staatsoberhaupts in der Region soll die Einheit des Westens bei der Unterstützung der von Russland angegriffenen Ukraine festigen.
USA wollen Kiew weiter unterstützen
Er habe es für entscheidend erachtet, dass es keinerlei Zweifel an der Unterstützung seines Landes für die Ukraine in dem Krieg gebe, hatte Biden an der Seite Selenskyjs in Kiew vor der Abreise nach Polen erklärt. In Polen will der 80-Jährige den Präsidenten Andrzej Duda treffen. Der US-Präsident hatte Polen zuletzt Ende März 2022 besucht, rund einen Monat nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine. Bei seinem jetzigen Besuch in Polen will Biden eine Ansprache in den Gärten vor dem Warschauer Königsschloss halten - darin dürfte er auf Putin und seine Rede antworten.
Scholz: "Putin ist auf bedrückendem Pfad unterwegs"
In Deutschland fielen die Reaktionen auf Putins Rede überwiegend negativ aus. "Der russische Präsident ist auf einem Pfad unterwegs, der sehr bedrückend ist", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Es müsse alles getan werden, um die Sicherheit des Planeten zu gewährleisten, erklärte Scholz in Duisburg. Dazu gehöre, "dass Atomwaffen in Kriegen nicht eingesetzt werden".
Mit Blick auf die Ukraine bekräftigte der Kanzler, es müsse alles dafür getan werden, dass sie ihre Unabhängigkeit und territoriale Integrität verteidigen kann. Es müsse dafür gesorgt werden, dass Putin mit seiner Idee "nicht durchkommt", so Scholz.
Die Grünen-Außenpolitikerin Merle Spellerberg nannte die Aussetzung von New Start "absolut besorgniserregend". Rüstungskontrolle sei "gerade in Zeiten von Krieg ein wichtiger Faktor für unsere Sicherheit". Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin begrüßte die militärische Unterstützung auch Deutschlands für die Ukraine und rief andere europäische Staaten auf, ebenfalls verstärkt Waffen zu liefern.
Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter warnte, die aggressive Politik Putins sei nicht auf die Ukraine beschränkt. Es sei für Deutschland wichtig, nicht Kriegspartei zu werden, "aber Kriegsziel sind wir schon", sagte Kiesewetter dem rbb. Wichtig sei zudem die Stabilisierung weiterer bedrohter Staaten, besonders der Republik Moldau.
Mit Informationen von AP, dpa und AFP

US-Präsident Biden ist nach seinem Überraschungsbesuch in Kiew nun in Warschau zu Besuch.
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