Mit der heutigen Verlesung der Anklage am Central Criminal Court in London ist der seit Dienstag laufende Prozess in Fahrt gekommen. Die Vorbereitungen dafür laufen allerdings seit Wochen. So hat das Gericht zur Prozess-Vorbereitung mehrere Anhörungen abgehalten. In einer dieser Anhörungen hat mit Orlin R. eine der Schlüsselfiguren eingeräumt, dass er mit einem Agenten Russlands kooperiert hat.
Dem BR lagen diese Informationen bereits länger vor. Weil der vorsitzende Richter die Presse-Berichterstattung eingeschränkt hatte, war eine Veröffentlichung bis zur Verlesung der Anklageschrift nicht möglich. Vor einigen Tagen hat ein zweites Mitglied der Gruppe ein ähnliches Geständnis abgelegt. Die übrigen Beschuldigten bestreiten die Vorwürfe bislang. Insgesamt sechs bulgarische Staatsbürger, darunter vier Männer und zwei Frauen, sind in den Fokus der Behörden geraten.
Anklage: Falsche Identitäten und Hi-Tech im Einsatz
Der russische Agent, mit dem R. unter anderem über den Messenger-Dienst Telegram kommuniziert hat, soll unter anderem das Pseudonym "Rupert Ticz" verwendet haben. Dem Vernehmen nach soll dahinter Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek stecken. Die Gruppe soll Dokumente und Informationen gesammelt haben. Nach Überzeugung von Anklägerin Alison Morgan haben die Bulgaren von 2020 bis 2023 zugunsten Russlands und zum Schaden Großbritanniens spioniert.
"Sie haben sich dabei falscher Identitäten bedient und sehr fortschrittliche Technik verwendet", sagte Morgan am Mittag im "Old Bailey", dem altehrwürdigen Strafgerichts-Gebäude im Zentrum der britischen Hauptstadt. Die Ziele der Spionage-Gruppe seien angeblich NATO-Basen in Deutschland gewesen. Außerdem sollen die Bulgaren im September 2022 nach Erkenntnissen der Ermittler die kasachische Botschaft in London ausspioniert haben. Die Angeklagten sitzen seit 2023 in Haft. Bei ihrer Festnahme hatte die Polizei mutmaßlich gefälschte Reisepässe sichergestellt – bei drei Mitgliedern der Gruppe.
Jan Marsalek: Strippenzieher für eine Spionage-Zelle?
Bereits im September vergangenen Jahres von den britischen Behörden veröffentlichte Informationen hatten den Schluss nahegelegt, dass es sich bei dem russischen Agenten um Jan Marsalek handeln soll. Er verfüge über Verbindungen zum russischen Staat und gilt für die Behörden als Bindeglied. Den Ermittlern vorliegende Beweise machten deutlich, dass Orlin R. von Marsalek über Telegram Nachrichten erhalten habe.
So soll sich der ehemalige Wirecard-Manager mit R. im Dezember 2022 über den Transport eines speziell gesicherten SINA-Laptops von Berlin zum russischen Geheimdienst FSB in Moskau ausgetauscht haben: Am Ende sei alles gut gegangen, die mit dem Transport beauftragte Botin sei allerdings ein "dummes Risiko" eingegangen, schrieb mutmaßlich Marsalek am 13. Dezember 2022 um kurz nach 22.00 Uhr an seinen bulgarischen Kontaktmann. Und weiter: "Sie ist mit einem gefälschten Pass durch die Sicherheitskontrolle gelaufen". Von Marsaleks Anwalt war dazu keine Stellungnahme zu bekommen.
Schon 2015 standen Marsalek und Orlin R. in Kontakt
Der ehemalige Tech-Unternehmer Orlin R. und Marsalek sind alte Bekannte. E-Mails aus dem Jahr 2015, die dem BR vorliegen, zeigen, dass sich beide zum Beispiel über besonders robuste und abhörsichere Mobiltelefone ausgetauscht haben. Marsalek war damals Mitglied des Wirecard-Vorstands, R. Direktor einer in Großbritannien registrierten IT-Firma.
Im Zuge des Zusammenbruchs des Aschheimer Zahlungsdienstleisters setzte sich Marsalek am 19. Juni 2020 von einem Kleinflughafen in Bad Vöslau unweit von Wien in Richtung Minsk ab. Seitdem wird er in Russland vermutet, wo er untergetaucht sein soll. Die britischen Behörden stellen dazu nur fest: "sein genauer Aufenthaltsort ist unbekannt". Wie lange der Prozess dauern wird, ist noch nicht abzusehen.
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