Eine Krise jagt die nächste, und alle verstärken sich gegenseitig; das Wort, das all das gut beschreibt, heißt: Polykrise. Die Historikerin Hedwig Richter von der Universität der Bundeswehr München findet, dass wir im Moment eine neue Qualität der Krisen erleben. Durch das billige Gas aus Russland hätten wir geglaubt, "wir können einfach so weitermachen wie bisher, wir haben überspielt, dass das alles schon da ist. Also diese Erdzerstörung war ja schon da. Aber jetzt, durch diese Zeitenwende, ist uns das alles noch mal klarer geworden."
Demokratien für Krisen gut gerüstet
Im Moment versucht der Staat viel abzufedern: Energiepauschale, Einmalzahlungen, Unterstützung von Unternehmen. Gerade Demokratien seien sehr flexibel, meint die Historikerin Richter: "Wir haben das bei der Corona-Krise gesehen, was passiert, wenn eine Katastrophe eintritt. Es hat mir doch auch Optimismus gegeben, weil sie eben gezeigt hat, dass liberale Demokratien sehr, sehr gut durch diese Krise kommen können. Natürlich passieren Fehler, aber Demokratien haben beispielsweise auch gezeigt, dass sie schnell reagieren können."
Hofreiter: Haben Augen lange vor der Wirklichkeit verschlossen
Jahrelang hat sich Deutschland auf das billige russische Gas verlassen. Der russische Angriffskrieg hat Deutschland gezeigt, dass eine andere Energiepolitik nötig ist. Grünen-Politiker Anton Hofreiter ist der Meinung, man brauche eine strategische Voraussicht. "Wie lang haben wir darüber diskutiert, und manche Teile tun es immer noch, ob die Klimakrise jetzt wirklich so schlimm ist. Ja, sie ist so schlimm. Wie lange hat man darüber diskutiert, ob Putin wirklich ein so großes Problem ist? 2015 haben wir die Verträge zu Nordstream 2 unterschrieben und die Erdgasspeicher an Russland verkauft, nachdem 2014 Russland die Ukraine das erste Mal angegriffen hat. 2011 ist der Bürgerkrieg in Syrien losgegangen, und spätestens 2012, 2013 hat man gesehen, wie verbrecherisch Assad reagiert und Millionen von Menschen vertreibt. 2015 sind dann viele Geflüchtete gekommen. Wir waren halt sehr, sehr gut darin, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, weil es so bequem war. Und das muss sich ändern."
Historikerin: Regierung hat Zeitenwende erkannt
Trotzdem gibt die Historikerin Hedwig Richter der aktuellen Regierung keine allzu schlechten Noten. Man befinde sich in einem enormen Transformationsprozess. Bei aller Kritik, die durchaus an der Regierung berechtigt sei, habe sie doch in dem einen Jahr Erstaunliches geleistet. Das Wegkommen vom russischen Gas, aber auch die Zeitenwende in der Sicherheitspolitik.
Dennoch habe sie eine lange Wunschliste, so Richter: "Dass wir viel weniger auf fossile Energien setzen, was momentan sehr stark passiert. Dass Olaf Scholz das alles schneller macht, dass wir mehr Waffen liefern an die Ukraine und so weiter. Aber trotz allem würde ich sagen, dass die Regierung das erkannt hat, dass wir eben diese Zeitenwende haben, und dass es da zu großen Veränderungen kommt."
Wie kann jeder Einzelne die Krise bewältigen?
Wichtig sei, nicht zu erstarren, sondern zu handeln. Wie etwa Ronja Hoffman: Sie engagiert sich bei Fridays for Future und sieht viele Zusammenhänge. Überall sei die Klimakrise mit dabei: Sei es bei der Energie oder bei zukünftigen Kriegen um Ressourcen. Sie ist der Meinung, dass es zu mehr Fluchtbewegungen kommen werde, weil manche Regionen der Erde nicht mehr bewohnbar sein werden.
Für Hoffmann ist es wichtig zu wissen, dass wir uns die Krisen nicht ausgesucht haben, aber dass wir uns aussuchen könnten, wie wir reagieren: "Also es bringt nichts, die Augen zu verschließen und darauf zu warten, dass es besser wird. Das wird nicht besser. Es wird katastrophal schlimmer und diesen Umgang mit der Krise zu sehen, ihr ins Auge zu sehen und zu wissen, wenn ich handele, dann wird es besser. Das ist ja vielleicht das, was ich mitgehen kann."
Neues Verhältnis zu Konsum
Krisenresilienz ist das entscheidende Wort. Auch Historikerin Hedwig Richter findet, dass wir die ökologische Transformation so gestalten sollten, dass alle daran teilhaben können. Als Beispiel nennt sie den Verkehr, bei dem Subventionierung von Autos nicht mehr Normalität sein sollte, sondern Unterstützung für einen guten öffentlichen Nahverkehr für alle, auch am Land.
Sie fordert: "Wir brauchen tatsächlich ein neues Verhältnis zu Konsum und zu der Frage, wie viel CO2 pro Kopf wollen wir ausstoßen und wie viel fossile Zerstörungen halten wir für angemessen für ein gutes Leben? Ist nicht ein gutes Leben eigentlich ein Leben, von dem man weiß, dass man eben nicht zur planetaren Zerstörung beiträgt?"
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