77 Jahre nach Kriegsende plant Polen, wegen des Überfalls im Zweiten Weltkrieg offiziell Reparationsforderungen an Deutschland stellen. Das teilte der Chef der national-konservativen Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, am Mittag in Warschau mit.
Ein von Polen vorgelegtes Gutachten beziffert die von Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg angerichteten Schäden im Land auf 6,2 Billionen Zloty (1,32 Billionen Euro). Der mehrfach angekündigte Bericht wird an einem symbolischen Tag präsentiert: Am 1. September 1939 begann der deutsche Überfall auf Polen. Nach Angaben von Arkadiusz Mularczyk, dem Leiter der Parlamentskommission, waren an dem Gutachten 30 Experten beteiligt, darunter Historiker, Wirtschaftsfachleute und Immobiliengutachter. Allein der erste Band umfasst mehr als 500 Seiten.
"Können nicht zur Tagesordnung übergehen"
"Die Deutschen sind in Polen eingefallen und haben uns enormen Schaden zugefügt. Die Besatzung war unglaublich verbrecherisch, unglaublich grausam und hatte Auswirkungen, die in vielen Fällen bis heute anhalten", sagte Kaczynski, der als starker Mann der polnischen Politik gilt. "Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen, nur weil es jemandem so vorkommt, als befände sich Polen in einer besonderen, radikal niedrigeren Position als andere Länder."
Entschädigungszahlungen als politischer Dauerbrenner der PiS
Die rechtsnationale PiS-Regierung, die das Nachbarland seit 2015 führt, stand zuletzt wegen schlechter Wirtschaftsdaten und ihres Krisenmanagements beim Fischsterben in der Oder in der Kritik. Beim Thema Entschädigungszahlungen kann sie auf breitere Zustimmung im Land hoffen. Tatsächlich hat Polens Führung das Thema zuletzt immer wieder aufgebracht. 2017 rief sie für das Gutachten eine Parlamentskommission ins Leben. Zudem gründete sie ein Forschungsinstitut für Kriegsschäden.
Bereits 2007 hatte der Zwillingsbruder Jaroslaw Kaczynskis, der PiS-Mitbegründer und damalige polnische Präsident Lech Kaczynski für Schlagzeilen gesorgt, als er forderte, die polnischen Kriegstoten müssten auf die Stimmgewichtung Polens in der EU angerechnet werden.
Kritik aus Polens Opposition
Der Chef der größten Oppositionspartei Bürgerplattform, Donald Tusk, warf Kaczynski vor, es gehe ihm nicht wirklich um Entschädigungen für die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. "Es geht ihm um eine innenpolitische Kampagne, um die Unterstützung für seine Partei zu stärken", sagte der ehemalige EU-Ratspräsident. Der polnische Oppositionspolitiker Grzegorz Schetyna nannte das Gutachten innenpolitisch motiviert. Polen sei auf ein gutes Verhältnis zu Deutschland angewiesen, sagte er.
Bundesregierung verweist auf 2+4-Vertrag
Die Bundesregierung hat zur Stunde noch nicht auf den polnischen Vorstoß reagiert. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bei seinem Antrittsbesuch in Warschau im Dezember Reparationsforderungen mit einem Hinweis auf die hohen deutschen EU-Finanzzahlungen gekontert, von denen ein Großteil in Länder im Osten der Union fließt.
Im Übrigen lehnt die Bundesregierung Entschädigungsforderungen auch grundsätzlich ab. Für sie ist die Frage mit dem 2+4-Vertrag über die außenpolitischen Aspekte der deutschen Einheit abgeschlossen. Ergänzend verweist Deutschland darauf, dass die kommunistische Führung Polens 1953 ihren Verzicht auf deutsche Reparationen erklärt hat.
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