Ein Eurofighter der Luftwaffe in Estland kurz vor dem Start
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Nato-Ostflanke: Die Bundeswehr vor neuen Herausforderungen

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Nato-Ostflanke: Die Bundeswehr vor neuen Herausforderungen

Der Krieg in der Ukraine bestimmt die Münchner Sicherheitskonferenz. Wichtige Themen sind dessen Auswirkungen sowie die Sicherung der Nato-Ostflanke. Dort sind auch bayerische Bundeswehrsoldaten eingesetzt.

Bad Reichenhall, Mitte Dezember 2022: Anweisungen hallen über den Bahnhof. Bundeswehrsoldaten verladen Rad-Transportpanzer auf Eisenbahnwaggons. Es geht in die Slowakei, an die Nato-Ostflanke. Per Handzeichen weist ein Soldat einen Panzerfahrer ein. Der rollt mit seinem mehr als 35 Tonnen schweren Fahrzeug auf den Kameraden zu. Etwa zwei Meter vor ihm kommt er zum Stehen, als der Einweiser beide Hände nach oben reckt.

Panzer verladen ist Präzisionsarbeit

Panzer verladen ist Präzisionsarbeit: Zentimetergenau müssen die Soldaten sie positionieren. Mittig auf dem Waggon, damit die Panzer vom Typ "Boxer" auf der Fahrt nirgends hängen bleiben.

Hauptmann Richard-Till W. beaufsichtigt die Soldatinnen und Soldaten in seiner Funktion als Technischer Offizier. Die Warnweste neon-gelb, die Ohren rot vor Kälte, ein Klemmbrett mit Listen in der Hand: "Man hat das lange nicht mehr gemacht", sagt er nüchtern. Alles, was für die Landes- und Bündnisverteidigung gebraucht werde, sei mehr und mehr in den Hintergrund gerückt, so W. Manches habe die Truppe erst wieder lernen müssen.

Mit eigenem Material in den Nato-Einsatz

Nun sind große Transporte mit der Bahn für die Bundeswehr plötzlich wieder Thema, wenn Einheiten innerhalb Europas mit ihrem eigenen Material verlegt werden müssen – so wie an diesem Tag. Denn in der Slowakei sollen Soldaten der dritten Kompanie des Gebirgsjägerbataillons 231 aus Bad Reichenhall für sechs Monate im Rahmen einer Nato-Mission eingesetzt werden.

Zur Abschreckung und zur Sicherung der Nato-Ostflanke. Rund 650 Kilometer Wegstrecke liegen vor den Soldatinnen und Soldaten. Einen "Katzensprung" oder eine "Tagestour", nennt es Hauptmann W. Schließlich sei der Weg zu einem Übungsplatz bei Berlin weiter gewesen als der Weg in die Slowakei – in ein Land, das an die Ukraine grenzt.

Antwort auf den russischen Angriffskrieg

In der Slowakei sollen die Gebirgsjäger Teil eines internationalen Gefechtsverbandes werden. Wie auch andere wurde der Gefechtsverband in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine aufgestellt. Das Militärbündnis hat seine Präsenz in den östlichen Nato-Staaten verstärkt. Enhanced Vigilance Activities, "eVA" ("erhöhte Wachsamkeitsaktivitäten") nennt sich die Mission. Abschreckung durch Truppenpräsenz, so die Idee dahinter. Eine permanente Truppenstationierung ist allerdings nicht vorgesehen, ein Vorgehen im Einklang mit den Übereinkünften zwischen der Nato und Russland. Die Einheiten wechseln sich ab. Die Gebirgsjäger stellen das zweite deutsche Kontingent.

Die aktuelle Lage, sagt Hauptmann Sebastian B, rufe einem jetzt noch stärker ins Gedächtnis, dass die Soldaten für die Sicherheit der Bundesrepublik einstehen. Als stellvertretender Kompaniechef ist er gewissermaßen der Letzte, der in Bad Reichenhall das Licht ausmacht, während Soldaten und Panzer bereits in die Slowakei rollen. Im Falle eines Falles wären sie als Kampftruppen "die ersten, die den Kopf hinhalten müssten". Das sei allen klar, sagt B.

Um ihn und seine Angehörigen zu schützen, müssen wir seinen Namen abkürzen. Genau wie die Namen der allermeisten Bundeswehrsoldaten. Ausgenommen sind nur wenige – Kommandeure etwa. Das ist eine Auflage des Verteidigungsministeriums: eine Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine – eine Folge der veränderten Sicherheitslage.

Bundeswehr an der Nato-Ostflanke

Ortswechsel: Fast 1.500 Kilometer Luftlinie trennen Bad Reichenhall von der Ämari Air Base in Estland. Die Wolken hängen tief, eisiger Wind peitscht Schneeflocken über den Asphalt. Auf dem Rollfeld des Militärflughafens kommt ein grauer Passagier-Jet der Bundeswehr zum Stehen.

Soldaten verlassen die Maschine, gehen in einer langen Reihe auf ein kleines Terminalgebäude zu. Hinter den Scheiben im ersten Stock warten ihre Kameraden – für sie geht es mit dem selben Flieger nach Hause: Personalwechsel bei der Luftwaffe in Estland.

Begrüßt werden die Ankömmlinge vom Chef persönlich, von Oberstleutnant Swen Jacob. Per Handschlag, mit einem "Servus". Ihm sei das wichtig, sagt der Offizier. Schließlich solle das neue Kontingent schnell zusammenwachsen. Die persönliche Begrüßung sei da der erste Schritt. Der Oberstleutnant ist Kampfpilot aus Neuburg an der Donau. Nun ist er eingesetzt, um von Estland aus den baltischen Luftraum zu sichern. Auch das ist eine Beteiligung Deutschlands an einer Nato-Mission.

Luftwaffe wird zur Luftpolizei

Die Piloten starten immer dann von der Ämari Airbase, wenn etwa russische Flugzeuge zum Beispiel vor der Küste Estlands auftauchen und sich nicht an die Regeln halten: den für internationalen Luftraum zuständigen Lotsen keine Flugpläne aufgeben, nicht mit der zivilen Luftsicherung kommunizieren oder das Transponder-Signal zur Identifikation abschalten. Verhindern sollen die Piloten zudem ein Eindringen von Maschinen in den baltischen Luftraum, wenn diese dort nichts verloren haben. Sie sind hier die Luftpolizei. Die Nato will abschrecken. Zeigen, dass sie da ist. Binnen 15 Minuten müssen die Jets in der Luft sein.

Einmal pro Woche müssten sie im Schnitt starten, sagt Oberstleutnant Swen Jacob, um ein Flugzeug abzufangen: "Wir fliegen parallel nebenher und klären erstmal auf, was es für ein Flugzeug ist. Wenn die Möglichkeit besteht, machen wir ein Foto zur Dokumentation. Dann liegt es an der Nato, zu entscheiden, ob die Dokumentation reicht oder ein Flugsicherheitsrisiko besteht."

Auge in Auge mit russischen Jets

In Deutschland fliegt der Kontingentführer ähnliche Manöver. Auch hierzulande stehen Eurofighter dafür bereit – in Alarmrotten. In der Regel unterscheiden sich die Einsätze aber von denen im Baltikum: Während es die Besatzungen im deutschen Luftraum zum Beispiel mit zivilen Maschinen zu tun haben, bei denen ein Pilot versehentlich sein Funkgerät ausgeschaltet hat und für die Flugsicherung nicht mehr erreichbar ist, fliegen sie im Baltikum schon Mal im wahrsten Sinne des Wortes Auge in Auge mit russischen Militärpiloten. Denn Russland fliegt die Exklave Kaliningrad laufend durch einen schmalen Korridor an. Gesichtet würde alles vom Transportflugzeug bis zum Kampfjet.

Nicht provozieren, aber zeigen, dass man da ist, lautet in diesen Fällen der Auftrag: "Die Gedanken macht man sich vorher. Wenn wir fliegen, nehmen wir den Auftrag war und sind darauf fokussiert", sagt Oberstleutnant Jacob. Beschäftigt habe ihn und die anderen vor dem Einsatz vor allem die Frage, ob russische Piloten "aggressiver" auftreten würden. Das aber sei nicht der Fall. Sie verhielten sich wie in den Jahren zuvor: "Von Pilot zu Pilot gesprochen verhalten sie sich professionell. Die haben ihren Auftrag, wir haben unseren. Jeder führt seinen Auftrag aus und respektiert den anderen wohl auch in dieser Situation."

Sechs Eurofighter im Einsatz

"Baltic Air Policing" heißt die Mission. Seit dem Beitritt der baltischen Staaten zur Nato im Jahr 2004 schützt das Bündnis deren Luftraum. Selbst leisten können das weder Estland, noch Lettland oder Litauen – mangels eigener Kampfjets. 2014 wurde die Mission ausgeweitet – als Reaktion auf die russische Annexion der Krim. Die Bundeswehr beteiligt sich für mindestens vier Monate pro Jahr mit bis zu sechs Kampflugzeugen vom Typ Eurofighter am Air Policing – im Wechsel mit anderen Nationen.

Die Eurofighter, die im Rahmen des Airpolicings in den baltischen Luftraum starten, sind einer von mehreren deutscher Beiträgen zur Sicherung der Nato-Ostflanke. Daneben werden immer wieder Schiffe der Marine für einen multinationalen Verband in der Ostsee abgestellt. Nach Polen wurden jüngst Waffensysteme vom Typ Patriot verlegt. Solche Flugabwehrraketen der Luftwaffe stehen seit letztem Jahr auch in der Slowakei – nahe des Lagers, in das sich die Bad Reichenhaller Gebirgsjäger aufgemacht haben.

Das deutsche Hauptaugenmerk aber liegt auf Litauen. Dort führt Deutschland seit 2017 den internationalen Gefechtsverband mit rund 1700 Soldaten an. Auch hier wechseln sich die Einheiten ab. Solche Battlegroups, die jeweils ein Nato-Staat führt, und für die andere Nationen Truppen stellen, sollen die Armeen der jeweiligen Gastländer unterstützen. Gemäß der Nato-Doktrin dient die verstärkte Präsenz von Truppen der Abschreckung.

Deutschland als Führungsnation in Litauen

Zu dem Gefechtsverband in Litauen gehört auch Hauptmann Sascha. Er kniet im Schnee unter Birken in einem Waldstück. Ein schweres Funkgerät im Rucksack. An diesem Tag schlüpft er bei einer Übung in die Rolle des Supervisors. Vor ihm knien niederländische Kameraden. Arbeitssprache Englisch.

Die Männer bauen ein etwa schuhschachtelgroßes Gerät auf. Es ist auf einem Dreibein montiert und sendet einen Laserstrahl aus. Damit lässt sich ein Ziel markieren, eine Koordinate bestimmen. Denn die Soldaten sind Spezialisten: Sie sind das Scharnier zwischen Kampftruppen auf dem Boden und Flugzeugbesatzungen weit oben in der Luft oder Artilleristen in der Ferne. Sie sind deren Augen auf dem Gefechtsfeld.

Konfliktszenario aus der Vergangenheit ist zurück

"Als die russische Invasion in der Ukraine begonnen hat, war das schon ein Moment, in dem ich darüber nachgedacht habe, was hier eigentlich auf einen zukommen kann", sagt Hauptmann Sascha. Mit dem Krieg in der Ukraine ist plötzlich ein Konfliktszenario zurück in Europa, von dem viele glaubten, es gehöre der Vergangenheit an: Ein konventioneller Krieg zwischen ebenbürtigen Armeen. Nach Jahren der Verschlankung und der Ausrichtung auf Stabilisierungsmissionen im Ausland muss sich auch die Bundeswehr wieder umorientieren.

Was das konkret bedeutet, verdeutlicht Hauptmann Sascha am eigenen Beispiel. Zu seinen Hauptaufgaben gehört es, auch die Sicherheit des Flugzeugs im Blick zu haben. Da sei die Bedrohungslage in einem konventionellen Krieg eine andere als die bei Stabilisierungseinsätzen, sagt er: "Im Gegensatz zu der Situation Afghanistan, wo die Flugabwehrsysteme limitiert und in ihren Fähigkeiten begrenzt waren, ist hier davon auszugehen, dass Russland über Flugabwehrsysteme mit einer größeren Reichweite verfügt, die auch eine sehr viel größere Bedrohung für Flugzeuge darstellen."

Reichenhaller Gebirgsjäger in der Slowakei

Aus dem Baltikum in die Slowakei, Bundeswehrcamp Lest: Heimat auf Zeit für die Soldatinnen und Soldaten der 3. Kompanie des Gebirgsjägerbataillons 231 aus Bad Reichenhall. Hier, rund 220 Kilometer westlich der Grenze zur Ukraine, hat die Bundeswehr 2022 ein Lager errichtet. Es steht auf einem Übungsplatz, den der internationale Gefechtsverband nutzt.

Große Aggregate zur Stromerzeugung sorgen für den Dauersound. Geschlafen wird in olivgrünen Containern – in der Regel zu zweit. Als Kantine dienen einige Zelte. Ein anderes wird als Fitnessstudio genutzt, eines für die Freizeit; ausgestattet mit Billardtisch und Dartscheiben, Spielekonsole und Beamer. Über all dem weht im Schneesturm die deutsche Fahne mit Bundesadler.

Indirekte Bedrohung

Die Bedrohungslage hier sei ganz anders als die bei seinem letzten Einsatz, fasst Kompaniechef Major Marcel Z. zusammen: In Mali hätte er es mit einer Bedrohung durch Aufständische – durch Terroristen – zu tun gehabt. Nun, in der Slowakei, sei die Bedrohung indirekter Natur: "Das Mindset ist anders, weil wir hier vor Ort sind, um unsere Bündnispartner und im schlimmsten Fall auch unser Heimatland zu verteidigen." "Gott bewahre", dass es dazu kommt, ergänzt Z.

Von den Männern und Frauen unter seinem Kommando fordert er aber ein, sich damit auseinanderzusetzen. Denn in letzter Konsequenz seien die Soldaten dazu vor Ort. Frieden sei keine Selbstverständlichkeit mehr, meint sein Stellvertreter Hauptmann B.

Herausforderung: Rückbesinnung auf Landes- und Bündnisverteidigung

Nach der Neuausrichtung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze ist die Rückbesinnung auf die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung eine große Aufgabe: Meint man es ernst, reicht es nicht mehr, nur Einsatzkontingente mit allem Material zu versorgen. Die ganze Armee muss mit ausreichend Fahrzeugen, Material und Munition ausgestattet sein. Reserven inklusive. Davon ist die Bundeswehr aktuell weit entfernt, analysieren Beobachter.

In den Missionen an der Ostflanke aber verschwimmt dieses große Bild. Hier haben und bekommen die Soldaten nahezu alles was sie brauchen, berichten viele. Sie könnten sich auf den Auftrag konzentrieren, das steigere die Motivation. Der kurze Dienstweg ersetzt mitunter die graue Bürokratie an den Heimatstandorten. Gearbeitet werde "zweckmäßig", so heißt es dann gern im Bundeswehrjargon.

Dennoch, so ist es aus Kreisen hochrangiger Offiziere in der Heimat zu erfahren, stellt die aktuelle Zahl der Einsätze die Armee vor eine gewaltige Herausforderung. Insbesondere dann, wenn Spezialisten gebraucht werden, von denen es in der über Jahre verkleinerten Armee zu wenige gibt. Zumal die Bundeswehr parallel unter anderem auch noch in Mali eingesetzt wird und Krisenreaktionskräfte für die Nato bereithalten muss.

Am 19.2. hören Sie um 14:35 Uhr die BR24 Reportage im Radioprogramm von BR24 zu diesem Thema. Sie ist hier auch als Podcast abrufbar. Dass Dossier Politik berichtete am 15.2. Den Podcast finden Sie hier.

Ab dem 24.2. finden Sie eine 45-minütige TV-Reportage in der ARD Mediathek.

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