Der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz hat seine Warnung vor einem angeblich zunehmenden "Sozialtourismus" ukrainischer Flüchtlinge nach Deutschland nach wenigen Stunden zurückgenommen. Zu seiner Äußerung gebe es viel Kritik, schrieb Merz am Vormittag auf Twitter. "Ich bedaure die Verwendung des Wortes 'Sozialtourismus'. Das war eine unzutreffende Beschreibung eines in Einzelfällen zu beobachtenden Problems."
Sein Hinweis habe ausschließlich der mangelnden Registrierung der Flüchtlinge gegolten. Es liege ihm fern, die Flüchtlinge aus der Ukraine, die mit einem harten Schicksal konfrontiert seien, zu kritisieren. "Wenn meine Wortwahl als verletzend empfunden wird, dann bitte ich dafür in aller Form um Entschuldigung."
Faeser: "Schäbige Stimmungsmache"
Zuvor gab es viel Kritik. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) attestierte dem CDU-Politiker via Twitter eine "Stimmungsmache auf dem Rücken ukrainischer Frauen und Kinder, die vor Putins Bomben und Panzern geflohen sind". Das sei "schäbig". Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) betonte: "Wenn Menschen teils unter Lebensgefahr zwischen Deutschland und der Ukraine pendeln, dann ist das kein Sozialtourismus. Vielleicht ist es einfach Sorge um die eigenen Angehörigen, den eigenen Mann oder Vater, die Militärdienst leisten, oder die eigene Heimat?"
Grünen-Bundestagsfraktionschefin Britta Haßelmann kritisierte die Aussage von Merz als beschämend. "Sich durch die Abwertung anderer Menschen profilieren zu wollen, ist ein Instrument, zu dem Rechtspopulisten regelmäßig greifen." Nicole Gohlke, bayerische Linken-Abgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Bundestag, twitterte: "Sozialtourismus ist der normale Rechtsaußen-Sprech von AfD und NPD." Merz scheine offenbar kein Problem damit zu haben, dieses Wording und die Hetze gegen Geflüchtete zu übernehmen - "wenn es im Gegenzug Stimmen von Rechtsaußen gibt".
Merz: "Da haben wir ein Problem"
Der CDU-Politiker hatte am Dienstagabend bei Bild TV beklagt, es gebe einen "Sozialtourismus" ukrainischer Flüchtlinge, "nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine." Mittlerweile nutze eine "größere Zahl" dieses System. "Da haben wir ein Problem, das wird größer." Die Union habe im Frühjahr darauf hingewiesen, dass dieses Problem entstehen könne, doch die Bundesregierung habe sich taub gestellt. Worauf konkret sich sein Vorwurf bezieht und welche Quelle er dafür hat, sagte Merz nicht.
Hintergrund der Debatte: Geflüchtete aus der Ukraine können in Deutschland seit Juni Grundsicherung erhalten. Dazu gehört etwa das Arbeitslosengeld II. Wer hier bereits einen Job hat, ist davon natürlich nicht betroffen.
Strack-Zimmermann: "Weder glaubwürdig noch fähig zu führen"
Scharfe Kritik an Merz kam auch von FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, im Bundestag Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. Wer erst "mit betroffenem Gesuch und gesalbten Worten" nach Kiew fahre, um dann kurz vor einer Landtagswahl am Rand noch ein paar Stimmen abzugreifen, sei "weder glaubwürdig noch fähig zu führen". Strack-Zimmermann spielte damit auf die Landtagswahl in Niedersachsen am 9. Oktober an. Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), warf Merz vor, er sprühe Gift "in unsere aufgewühlte Gesellschaft, anstatt einen Beitrag zum Zusammenhalt zu leisten".
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte über die umstrittenen Äußerungen: "Er hat es korrigiert, und damit ist es auch erledigt." Dobrindt ergänzte: "Es kann auch mal ein Satz daneben liegen. Das muss man nicht auf die Goldwaage legen." Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), verteidigte seinen Parteichef. Merz habe "sicherlich eine sehr zugespitzte Formulierung" verwandt, "um auf ein Problem hinzuweisen, das hier möglicherweise besteht".
Die Fraktionschefin der AfD im Bundestag, Alice Weidel, bezeichnete Merz bei Twitter als Heuchler. "Stünden die Grenzen nicht seit 2015 dank CDU sperrangelweit offen, hätten wir das Problem nicht", schrieb Weidel.
Herrmann: "Nicht viele Fälle" in Bayern
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte BR24 vor Merz' Entschuldigung mit Blick auf dessen Aussagen, ihm seien aus Bayern "noch nicht viele Fälle" dazu bekannt. "Wir werden dem auf jeden Fall nachgehen."
Es sei ein grundsätzlich ein Problem, dass die Bundesregierung allen ukrainischen Flüchtlingen Zugang zur allgemeinen deutschen Sozialhilfe gewähre. Das schaffe Anreize. Gleichzeitig seien mögliche Sanktionen für den Fall, dass jemand zumutbare Arbeit nicht annehme, außer Kraft gesetzt worden. "Das ist in der Kombination natürlich eine falsche Botschaft, als ob man beliebig in Deutschland Sozialhilfe abholen könnte, ohne in der Regel arbeiten zu müssen, wenn man arbeitsfähig ist", sagte der CSU-Politiker.
Diese Behauptung stimmt aber nicht laut der Bundesagentur für Arbeit. Ein Sprecher sagte BR24, ukrainische Flüchtlinge müssten dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, sonst werde ihnen die Grundsicherung gestrichen.
"Sozialtourismus": Unwort des Jahres 2013
Bundesinnenministerin Faeser verwies zudem darauf, dass "Sozialtourismus" 2013 das "Unwort des Jahres" in Deutschland gewesen sei - "und es ist auch 2022 jedes Demokraten unwürdig".
Die Jury aus Sprachwissenschaftlern argumentierte damals: "Das Grundwort 'Tourismus' suggeriert in Verdrehung der offenkundigen Tatsachen eine dem Vergnügen und der Erholung dienende Reisetätigkeit. Das Bestimmungswort 'Sozial' reduziert die damit gemeinte Zuwanderung auf das Ziel, vom deutschen Sozialsystem zu profitieren. Dies diskriminiert Menschen, die aus purer Not in Deutschland eine bessere Zukunft suchen – und verschleiert ihr prinzipielles Recht hierzu."
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