Ein Kind lernt für die Schule (Symbolbild).
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Nach der Pandemie - was braucht’s zum Lesenlernen?

Lesen ist die wichtigste Fähigkeit, die Kinder in der Grundschule lernen. Doch die Defizite bei den Schülerinnen und Schülern sind in der Pandemie groß geworden. Was muss getan werden, damit alle Kinder gut lesen lernen?

Über dieses Thema berichtet: Notizbuch am .

Unterricht in einer 3. Klasse in einer Grundschule im Münchner Osten. Klassenlehrerin Frau Gramling macht mit ihren Schülerinnen und Schülern Lese-Übungen. Denn manche Kinder haben große Schwierigkeiten beim Lesen. Das Problem, sagt Frau Gramling, sei: "Dass wir eine große Schere haben. Es gibt Kinder auf Gymnasialniveau und auch Kinder, die sich wahnsinnig schwertun." Man merkt: Einige Kinder lesen schnell und flüssig, andere brauchen deutlich länger. Vor allem hapert’s beim Textverständnis. Oft fehle der Wortschatz, der als zentrale Säule der Sprachkompetenz gilt.

Pandemie hat Defizite verschärft

Corona habe seine Spuren hinterlassen, sagt Michael Hoderlein, der die Münchner Grundschule leitet: "Wir merken sehr wohl in Deutsch und in Mathematik, dass die Kinder Defizite aufgebaut haben, die vor allem darauf beruhen, dass sie in den zwei Jahren der Pandemie keinen regelmäßigen Unterricht hatten.“ Ein Drittel des Schulstoffes haben sie während der Pandemie verpasst. Der Anteil jener Schülerinnen und Schüler, die den Mindeststandard in Deutsch und Mathe nicht erreichen, hat zugenommen.

Fast jeder fünfte Viertklässler kann nicht richtig lesen

Aber auch schon vor der Pandemie ging die Lernkurve nach unten, seit etwa zehn Jahren geht es bergab: Fast jeder fünfte Viertklässler in Deutschland kann nicht richtig lesen, fand die IGLU-Studie 2017 heraus, die die Leseleistungen in bis zu 60 Ländern vergleicht: Deutschland befand sich im internationalen Vergleich nur noch im guten Mittelfeld. Das gilt aber nicht für alle: Es gibt mehr leistungsschwache, aber auch mehr leistungsstarke Schüler. Die gesellschaftliche Schere vergrößert sich. Die ernüchternden Ergebnisse fallen in eine Zeit, in denen in vielen Bundesländern gerade im Grundschulbereich viele Lehrkräfte fehlen.

Lernrückstände summieren sich auf

Der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer von der Universität Augsburg sieht dringenden Handlungsbedarf. "Das ist immer das Problem von Lernrückständen, dass sie sich aufsummieren über die Jahre hinweg. Wir müssen damit rechnen, dass die 'Generation Corona' länger mit den Lernrückständen zu kämpfen haben wird." Die Kinderbuchautorin Nina Weger spricht von alarmierenden Zahlen. "Kinder, die nicht lesen können, sind beeinflussbar. Das ist auch eine Gefahr für unsere Demokratie", sagt sie.

Herausforderung alle Kinder gleich gut zu fördern

Insgesamt ist die Schülerschaft an Grundschulen im letzten Jahrzehnt heterogener geworden. Es sind mehr Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an den Regelschulen – Stichwort Inklusion. Und mehr Kinder mit Migrationshintergrund. Dadurch wird es für Lehrkräfte schwieriger, alle Kinder gleich gut zu fördern und sie auf ein gleiches Level zu bringen.

Konzentration auf Mindeststandards

Wie also sorgt man dafür, dass alle Kinder gut lesen lernen? Ulrich Ludewig vom Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund empfiehlt, dass man sich mehr auf die Mindeststandards konzentriert. "Man müsste ein System finden, das Kinder, die Probleme beim Lesen haben, identifiziert und ihnen systematisch Unterstützung gibt", sagt Ludewig.

Evidenzbasiertes Leseprogramm aus Regensburg

Eine solche Hilfe könnte "Filby" sein - ein Lesetraining für die zweite, dritte und vierte Klasse, das Anita Schilcher und Johannes Wild vom Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur der Universität Regensburg mit einem Team entwickelt haben. Die Idee ist, dass die Texte jedes Jahr schwieriger werden und jedes Mal eine angepasste Methodik im Unterricht eingesetzt wird. In der zweiten Klasse etwa liest das Kind einen Text nicht nur, sondern hört ihn gleichzeitig – je nach Bedarf in langsamem, mittlerem oder schnellen Sprechtempo – und markiert ihn mit einem Stift. Beim ersten Durchgang hört das Kind nur zu. Beim zweiten Durchgang liest es selbst laut mit. Beim dritten Durchgang liest das Kind den Text einer anderen Person vor. Die Audios gibt es gibt es als kostenlosen Download im Internet. Für Sachtexte und bekannte Kinderbücher – zum Beispiel "Cowboy Claus und sein Schwein Lisa".

Regulärer Unterricht hängt Schwächere oft ab

An etwa 40 Prozent der bayerischen Grundschulen und auch außerhalb von Bayern wird "Filby" eingesetzt. Frau Gramling kümmert sich an ihrer Schule um die Einführung. Das Programm schaffe es, schwache und starke Schüler und Schülerinnen gleichermaßen zu fördern, sagt die Regensburger Didaktik-Professorin Anita Schilcher. Wohingegen der reguläre Unterricht, wie Schilchers Tests zeigen, eher die starken Schülerinnen und Schüler bevorzuge und Schwächeren häufig abgehängt würden.

Lernverlaufsdiagnostik - regelmäßig Fortschritt abfragen

Damit Lehrkräfte die Kinder, die nicht gut mitkommen, einfacher erkennen, sind Lernverlaufs-Apps oder -programme wie "Antolin", "Lepion" oder "Quop" sinnvoll. Die Idee dahinter: Mit regelmäßigen Tests sehen Lehrkräfte, wie sich die Leistungen der Schüler entwickeln. Das regelmäßigen Abfragen der Fortschritte hat etwa in den USA und Großbritannien zu Erfolgen geführt.

"Quop" wurde am Institut für Psychologie und Bildung der der Universität in Münster entwickelt und ist ein Quiz am Computer: Schülerinnen lesen Sätze und beantworten dazu Fragen. Die Kinder nähmen das Programm gut an, sagt eine Lehrerin. Heißt aber auch: Die Schule braucht Computer und funktionierendes W-Lan. Daran scheitere es oft, sagt Mareike Ehlert von der Universität Münster, die Quop mitentwickelt hat.

Erste KI-basierte Leseprogramme bereits auf dem Markt

Und sogar Künstliche Intelligenz (KI) soll helfen: Die ersten KI-basierten Lese-Förderprogramme sind schon auf dem Markt. Da tue sich einiges, sagt Sabine Uehlein, die bei der Stiftung Lesen als Programmgeschäftsführerin die Angebote verantwortet. "So ein KI-Programm kann zum Beispiel überprüfen: Wie schnell liest ein Kind, wie flüssig liest ein Kind? Wo macht es Fehler? Und es kann individuelle Unterstützungs- und Lernangebote anbieten." Uehlein glaubt, dass digitale Tools oder auch KI-gestützte Tools in der Leseförderung eine große Bedeutung haben können.

Ob mit KI und PC oder ohne: Letztlich, da sind sich alle Expertinnen und Experten einig, lernen Kinder umso besser lesen, je mehr Zeit sie damit verbringen.

Am Montag 27.03.2023 läuft auf Bayern2 im Notizbuch ab 10.05 Uhr die etwa halbstündige radioReportage: Nach der Pandemie - was hilft beim Lesenlernen?

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