Martin Irlinger drückt seine Tochter fester als sonst. Sie kommt gerade aus Barcelona, ihr Hostel lag zehn Minuten vom Anschlagsort entfernt. „Das Wichtigste ist, Klarheit zu bekommen“, sagt Irlinger, der ehrenamtlich beim Kriseninterventionsteam München arbeitet. „Das wusste ich schon theoretisch, wegen meiner Tochter habe ich es nun praktisch erfahren.
Ausnahmezustand nach der Katastrophe
Martin Irlinger kennt den Ausnahmezustand. Nach dem Germanwings-Absturz in den französischen Alpen war er vor Ort, genauso wie beim Münchner Amoklauf. Die wichtigste Erstversorgung für seelisch Verletzte. Ein sicherer Ort:
"Und wenn es nur eine Decke ist, die man einem Opfer umlegt. Dass der merkt: Das ist ein kleiner Raum, in dem ich geschützt bin. Manche wollen umarmt werden, andere wollen reden. Wieder andere nur, dass man da ist, dass sie wissen, du bist jetzt nicht alleine." Martin Irlinger
Das Bauchgefühl sei entscheidend, sagt der gelernte Kommunikationstrainer: "Manche, die dringend Hilfe brauchen, sitzen einfach nur still da, während manche, die laut schreien, vielleicht nicht so viel Hilfe brauchen."
Das ist ganz hart: Totstellen, Angriff, Flucht
Schlaflosigkeit, Heißhunger, Erinnerung an Gerüche oder ein Zucken, wenn das Fenster knallt. All das sei nach traumatischen Erlebnissen wie zuletzt dem Terroranschlag von Barcelona normal. Nur wenn die Symptome länger als zwei, drei Wochen anhalten, sei weitere psychologische Hilfe nötig.
Doch auch Martin Irlinger stößt an Grenzen, wenn er Todesnachrichten überbringen muss: "Das ist ganz, ganz hart. Die Menschen ahnen es oft schon, wenn wir zusammen mit der Polizei kommen." Dann noch um den heißen Brei herumzureden, bringe nichts. Die Reaktion sei wie bei Tieren:
"Totstellen, Angriff, Flucht. Mir ist es schon passiert, dass mit dem Aschenbecher nach mir geworfen wurde. Doch ich nehme das nicht übel. Ich verstehe es." Martin Irlinger
Nichts verdrängen und verstecken
Um selbst mit all dem klar zu kommen, kann Martin Irlinger selbst psychologischen Rat in Anspruch nehmen. Was ihn umtreibt, sind jedoch weniger die Geschichten der Opfer. Was ihn ärgert, ist die Sensationsgier der Umstehenden: Da will jeder den besten Platz haben, um Fotos zu machen. Manchmal stehen sie auch im Weg und behindern den Weg der Rettungskräfte.
Gleichzeitig erlebe er viel Hilfsbereitschaft. Nachbarn kümmern sich, Fremde werden aufgenommen, Kuchen für die Helfer gebacken. Immer wenn er daran denkt, kriegt er Gänsehaut.
Was würde nun Martin Irlinger, der schon so viel erlebt hat, den Opfern von Barcelona raten? Vor allem eines: Nichts verdrängen. Und über das Erlebte sprechen:
"Wenn sie es jetzt in eine Kiste packen und die wegpacken, dann kann es sein, dass die Kiste irgendwann einmal aufgeht. Und dann ist keiner da, der hilft." Martin Irlinger