Gut 330 Meldungen gibt es derzeit laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zu Lieferengpässen von Präparaten. Vor allem Fiebersenkungsmittel für Kinder sind in vielen Apotheken in Deutschland nicht vorrätig. Der Präsident der Bundesärztekammer Klaus Reinhardt hat am Wochenende deshalb eine Art Medikamenten-Flohmarkt vorgeschlagen: Nachbarn und Bekannte sollen sich gegenseitig mit Arzneimitteln aushelfen, um dem derzeitigen Mangel entgegenzuwirken. Wie sich Betroffene jetzt selbst helfen können und welche Risiken dabei bestehen - ein Überblick.
Wie sicher sind Medikamenten-Flohmärkte?
Gleich vorab: Den Vorschlag für einen Tauschmarkt lehnen Apothekerverbände in Deutschland grundsätzlich ab. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) warnt sogar vor großen gesundheitlichen Risiken. "So treibt man Menschen in gefährliche Arzneimitteleinnahmen, löst aber keine Lieferengpässe", betont ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening. Auch der Vorsitzende der Bundesapothekerkammer, Thomas Benkert, äußerte sich schockiert über die Aussagen von Ärztepräsident Reinhardt. "Arzneimittel gehören in Apotheken, nicht auf den Flohmarkt – schon gar keine abgelaufenen Arzneimittel", so der Fachmann.
Ulrike Holzgrabe, Apothekerin und Pharmazie-Professorin der Universität Würzburg verweist auf die bestehenden Risiken. Es gebe schließlich Verfallsdaten, für die die Qualität gesichert seien, eben weil Wirkstoffe unterschiedlich stabil seien. Im BR-Interview rät sie Betroffenen, bei Unsicherheit in der Apotheke nachzufragen. "Der Apotheker sollte wissen, ob die Substanzen noch zu benutzen sind oder nicht. Aber Säfte, die schon länger auf sind, länger als 14 Tage, würde ich nicht mehr benutzen."
Können abgelaufene Arzneien noch problemlos eingenommen werden?
Auch der Münchner Allgemeinmediziner Dr. Markus Frühwein würde seinen eigenen Kindern eher keinen abgelaufenen Fiebersaft verabreichen. "Man weiß einfach nicht genau, ist das Ganze noch wirksam und gut verträglich?", so der Mediziner im BR. Bei anderen, lebensnotwendigen Medikamenten könne man schon eher eine Ausnahme machen. "Dafür hat man im Zweifelsfall dann aber auch einen Notarzt", erklärt Frühwein. Bei ausschließlich fiebersenkenden Produkten würde er aber kein Risiko eingehen. Abgelaufene Produkte sollten erst als letzte Option genutzt werden.
Eltern sollten hingegen eher versuchen, im Freundes- und Bekanntenkreis Mittel aufzutreiben, die noch nicht abgelaufen sind. "Auch ein bereits geöffneter Fiebersaft hält je nach Produkt und Hersteller zwischen sechs und zwölf Monate. Eltern sollten bei fiebrigen Kindern aber auch an klassische Therapien denken wie etwa Wadenwickel", ergänzt Frühwein.
Können auch niedriger dosierte Präparate funktionieren?
Mit alternativen Behandlungsmethoden helfen sich derzeit auch viele Apotheker aus. "So können Fiebersäfte etwa durch Zäpfchen ersetzt werden", sagt der Präsident des Landesapothekerverbands Baden-Württemberg, Frank Eickmann. Außerdem hätten Apotheken die Möglichkeit, gewisse Medikamente nach Rezeptur in der Apotheke selbst herzustellen. Die letzte Möglichkeit sei, dass man die Dosierung anpasse. "Zur allergrößten Not sagen wir dann, wie eine Tablette für Erwachsene jetzt runter dosiert wird und die Eltern dem fiebernden Kind helfen können."
Patienten mit Dauermedikation rät Eickmann, sich frühzeitig um ihre Medikamente zu kümmern: "Gehen Sie nicht erst nach der letzten Tablette zum Arzt und holen das Rezept, sondern sehr, sehr, sehr rechtzeitig, 14 Tage vorher. Zeit hilft." Auch für akut Erkrankte hat Eickmann Lösungen parat. So müsse es oftmals nicht das "Wunschmedikament" sein, was der Arzt verordnet habe. Die Apotheker unterstützen die Patienten bei der Suche nach alternativen Medikamenten. Um trotz Mangel "eine gute und hochwertige Versorgung zu leisten".
Rentiert sich der Medikamenten-Tourismus ins Ausland?
Grundsätzlich handelt es sich bei dem aktuellen Medikamentenmangel um ein europaweites Problem. Viele Hersteller mit Produktion in Indien oder China beliefern den Kontinent derzeit nur unregelmäßig. Daher lohnt sich auch der Medikamenten-Tourismus in Nachbarländer meist nicht. Fiebersäfte der Handelsmarken Ibuprofen oder Nurofen zum Beispiel sind derzeit auch in der Tschechischen Republik ausverkauft.
Apotheker Raphael Dives aus Zwiesel sagte dem BR, damit entfalle auch die Möglichkeit, von dort diese Medikamente, die in Tschechien etwa einen Euro billiger sind, einzuführen. Der stellvertretende Vorsitzende des Bayerischen Apothekerverbandes, Josef Kammermeier aus Regensburg, ergänzte, dass der Einkauf solcher Medikamente in Tschechien zwar grundsätzlich erlaubt ist. Durch die weltweite Konzentration der Wirkstoff-Produktion in Ländern außerhalb Europas komme es aber immer wieder zu Engpässen in Deutschland, ja ganz Europa.
Peter Sandmann, Apotheker in München, beobachtet, dass trotzdem noch einige Deutsche ihr Glück im Ausland probieren. "Viele Eltern, die bei uns nichts finden, bestellen in Österreich. Wobei es da jetzt auch knapp wird." Denn auch da fehlen viele Arzneimittel. Laut der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) sind aktuell rund 400 Medikamente davon betroffen. Allerdings sollen in der Regel andere Medikamente mit gleichem Wirkstoff zur Verfügung stehen. Es fehlen vor allem bestimmte Schmerzmittel, Antibiotika und Psychopharmaka. Das österreichische Gesundheitsministerium in Wien hat deshalb mit Exportverboten reagiert. Derzeit dürfen rund 250 österreichische Medikamente nicht mehr ins Ausland verkauft werden, weil die inländische Nachfrage zu hoch ist.
Audio: Lauterbach zum Medikamentenmangel

Gesundheitsminister Lauterbach
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