Morde und Entführungen, Verhaftungen und körperliche Angriffe seien bloß unterschiedliche Ausprägungen desselben Problems. Regierungen, Interessengruppen und Einzelpersonen wollten Medienschaffende mit Gewalt daran hindern, unabhängig zu berichten, so der Vorstandssprecher der Nicht-Regierungsorganisation "Reporter ohne Grenzen" (RSF) Deutschland, Michael Rediske. Dieses Phänomen beobachte man in allen Teilen der Welt.
- Zum Überblick "Pressefreiheit 2022: Wo es besonders düster aussieht"
Deutschland: Gewalt bei Demonstrationen
Auch in Deutschland sei die Aggressivität gegenüber Journalistinnen und Journalisten auf ein Rekordhoch gestiegen, so Rediske. Deutschland war bereits im vorigen Jahr erstmals nicht mehr unter den Ländern, in denen die Lage der Pressefreiheit als "gut" eingestuft wurde, sondern in die Kategorie "zufriedenstellend" abgerutscht. Im aktuellen Ranking, das sich auf das Kalenderjahr 2021 bezieht, steht Deutschland nur mehr auf Platz 17 (vorher 14) von 180.
Für diese Entwicklung sind laut RSF drei Gründe zentral: eine Gesetzgebung, die Journalistinnen und Journalisten sowie ihre Quellen gefährde, abnehmende Medienvielfalt sowie allen voran Gewalt bei Demonstrationen. 80 verifizierte gewaltsame Angriffe hat es in Deutschland 2021 gegeben, die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Auch zwölf Angriffe von der Polizei auf die Presse wurden dokumentiert.
Viele Journalisten und Journalistinnen trauen sich nur mehr mit Personenschutz über Demonstrationen etwa von "Querdenkern" oder Impfgegnern zu berichten; manche gehen gar nicht mehr hin. Auch jenseits von Versammlungen wurden Medienschaffende 2021 attackiert: zu Hause, im Gerichtssaal, in Fußballstadien, so RSF. Auch die Drohungen, denen sie wegen ihrer Berichterstattung in den sozialen Netzwerken ausgesetzt sind, haben massiv zugenommen.
Gefahr: Ausspähung von Medienschaffenden
"Reporter ohne Grenzen" kritisiert für Deutschland auch den mangelnden Schutz von Journalisten und Journalistinnen und ihrer Quellen; dabei geht es vor allem um die Cybersicherheitsstrategie der alten und neuen Bundesregierung. Die Spy-Software Pegasus, der Einsatz von Staatstrojanern und die Ausweitung von Überwachungsbefugnissen von Sicherheitsbehörden wie dem BND machen der Journalistenorganisation Sorgen.
Wenn die Kommunikation zwischen Journalistinnen und Journalisten und ihren Quellen damit de facto überwacht werden könne, stelle das ein Hindernis für investigative Recherchen und letztlich einen Eingriff in das Redaktionsgeheimnis dar, so RSF in ihrer "Nahaufnahme Deutschland".
Pressefreiheit weltweit im Niedergang
Krisen, Kriege und Gewalt bestimmten die Lage der weltweiten Pressefreiheit seit Anfang 2021, so RSF in ihrem aktuellen Bericht. Das betrifft insbesondere Myanmar nach dem Militärputsch, Afghanistan nach der Rückeroberung durch die Taliban, Russland und Ukraine nach dem Beginn des Angriffskrieges durch den Kreml sowie China im Kampf gegen die Pandemie.
Das tödlichste Land für JournalistInnen ist weiterhin Mexiko, wo immer wieder Medienschaffende ermordet und die Morde kaum geahndet werden. Im Jemen, in Mali und Burkina Faso sowie in den Palästinensischen Gebieten haben Medienschaffende unter politischer Instabilität zu leiden oder kommen gar ums Leben. In Belarus und im Iran häufen sich die Verhaftungen von Pressevertretern und Pressevertreterinnen. Ganz am Ende der Skala von RSF stehen wie seit Jahren Nordkorea, Eritrea, der Iran und Turkmenistan.
- Zum Artikel "Trauriger Rekord: Zahl inhaftierter Medienschaffender gestiegen"
Skandinavien: Leuchttürme der Pressefreiheit
Wie in den vergangenen Jahren stehen die skandinavischen Länder an der Spitze, wenn es um die ungehinderte Ausübung von Pressefreiheit geht. Norwegen belegt zum sechsten Mal in Folge Platz 1 auf der Rangliste, gefolgt von Dänemark und Schweden. Mit Estland auf Platz 4 ist erstmals eine ehemalige Sowjetrepublik unter den Top 5.
In all diesen Ländern herrscht Medienpluralismus und es gelten starke Informationsfreiheitsgesetze – die in Deutschland immer noch fehlen. Außerdem verzichtet die Politik weitgehend darauf, Medienvertreter und Medienvertreterinnen verbal zu attackieren. Medienhäuser haben aktiv Schutzmaßnahmen gegen Online-Hetze ergriffen.
Europas Schlusslichter
Zwar ist nach der Auswertung von "Reporter ohne Grenzen" Europa weiterhin die Weltregion, in der Journalistinnen und Journalisten am freiesten arbeiten können, Aber es zeigen sich auch negative Trends: In Griechenland und in den Niederlanden wurden Reporter auf offener Straße ermordet. Auf den griechischen Inseln wird die Berichterstattung über die Flüchtlingslager systematisch behindert. Griechenland (Platz 108) hat daher Bulgarien als am schlechtesten platziertes Land der EU abgelöst.
Auch die Entwicklungen in Polen und Ungarn sind nach Ansicht von "Reportern ohne Grenzen" weiterhin besorgniserregend. Die PiS-Regierung versucht massiv Einfluss auf Redaktionen zu nehmen; die Berichterstattung an der Grenze zu Belarus wurde weitgehend eingeschränkt. Auch in Ungarn werden unabhängige Medien durch Gesetzgebung und politische Eingriffe mundtot gemacht. Slowenien reiht sich inzwischen hier ein. Die Situation der Presse in der Türkei bezeichnet RSF schlicht als "katastrophal".
Wie die Rangliste der Pressefreiheit entsteht
"Reporter ohne Grenzen" erstellt die Rangliste der Pressefreiheit systematisch seit 20 Jahren. Die Organisation stützt sich dabei auf Expertinnen und Experten in den einzelnen Ländern. Die Entwicklung in 180 Staaten und Territorien wird per Fragebogen erfasst. Die Rangliste beruht auf einer Punktzahl von 0 bis 100, die jedem Land oder Gebiet zugewiesen wird. 100 Punkte bedeuten den höchstmöglichen Grad an Pressefreiheit; Norwegen an der Spitze erreicht 92,7 Punkte.
Erfasst werden dabei der politische und der gesellschaftliche Kontext, der rechtliche und der wirtschaftliche Rahmen sowie die Sicherheitsbedingungen, unter denen Medien arbeiten. Eingeteilt wird in fünf Kategorien: die Lage ist gut (acht Länder), zufriedenstellend, zeigt erkennbare Probleme, ist schwierig oder sehr ernst. Für 2021 fallen in die schlechteste Kategorie 28 Länder, das sind zwölf mehr als 2020 und damit so viele wie noch nie.
Die Methodik der Erhebung wurde 2022 angepasst, so dass die Vergleichbarkeit zu den Vorjahren eingeschränkt ist. In die Rangliste der Pressefreiheit 2022 sind Daten von Anfang 2021 bis Ende Januar 2022 eingeflossen. In Ländern, in denen sich die Lage der Pressefreiheit seit Januar dramatisch verändert hat (Russland, Ukraine und Mali) wurden Entwicklungen bis einschließlich März 2022 berücksichtigt.
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