Eine Schaukelwippe steht im leeren Garten der Kindertagesstätte (Symbolbild).
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Kita wegen Corona zu: "Nicht nötig" oder damals vertretbar?

Monatelang waren Kitas während der Corona-Lockdowns geschlossen – bis auf eine Notbetreuung. Die Schließungen waren "nicht angemessen", sagt Bundesgesundheitsminister Lauterbach. Die Meinungen dazu gehen auseinander.

Es waren deutliche Sätze, mit denen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) über einen wesentlichen Baustein der Corona-Lockdowns urteilte: Die Schließungen von Kitas seien "medizinisch nicht angemessen" und nach heutigem Wissen im damaligen Umfang "nicht nötig" gewesen, erklärte Lauterbach am Mittwoch bei der Vorstellung der "Corona-Kita-Studie". Kitas waren laut dem Gesundheitsminister "keine Infektionsherde".

Es werde keine Schließungen dieser Art mehr geben, sagte der SPD-Politiker. Gleichzeitig betonte er, dass er nichts von Schuldzuweisungen halte: Bundesregierung und Bundesländer hätten das damals gemeinsam beschlossen.

Hagen: Kita-Schließungen waren "folgenschwerer Fehler"

Die Reflexe im politischen Betrieb folgten prompt. Der bayerische FDP-Fraktionschef Martin Hagen reagierte als einer der Ersten – und forderte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) zu einer Entschuldigung auf. Söders "Corona-Politik der Jahre 2020 und 2021 ging massiv zu Lasten von Kindern", sagte Hagen. Die Kita-Schließungen seien ein folgenschwerer Fehler gewesen. "Besonders Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern haben massiv darunter gelitten."

Ähnlich äußerte sich CDU-Politiker Armin Laschet, Söder spätestens seit dem Ringen um die Kanzlerkandidatur im vergangenen Jahr kritisch verbunden. "Ich hoffe, dass einige der sich selbstüberheblich 'Team Vorsicht' nennenden Akteure sich bei den Kindern entschuldigen", twitterte der frühere CDU-Chef, der inzwischen einfacher Bundestagsabgeordneter ist. "Und wir anderen hätten uns noch stärker dem Verbotsrausch zulasten der Kinder widersetzen müssen."

Kinder im Lockdown: Studie beleuchtet verschiedene Aspekte

"Folgenschwerer Fehler", "Verbotsrausch": Schon diese Wortmeldungen zeigen, wie groß die Aufregung ist. Was genau steht in der Studie, die vom Deutschen Jugendinstitut und Robert Koch-Institut zwischen Sommer 2020 und Sommer 2022 durchgeführt wurde? Ist Lauterbachs Schluss nachvollziehbar – oder haben diejenigen Recht, laut denen die Daten überhaupt nicht klar zeigen, dass die Kita-Schließungen falsch waren?

Die Autorinnen und Autoren der 148-seitigen Studie (hier komplett als pdf-Datei abrufbar) haben aus verschiedenen Perspektiven untersucht, welche Auswirkungen Infektionen und Corona-Maßnahmen auf Kindertagesbetreuung, Kinder und Familien hatten. Einige wichtige Erkenntnisse:

  • "Kontaktreduzierende Maßnahmen" wie getrennte Gruppen oder Masken beim Personal hätten sich zwar als effektiv erwiesen. "Aber ihre Bedeutung nahm mit der zunehmenden Verbreitung von Masken sowie einer zunehmenden Durchimpfung des Personals tendenziell ab."
  • Die Entwicklung vieler Kinder litt: 43 Prozent der befragten Kita-Leitungen berichteten "gestiegene Förderbedarfe in der sprachlichen Entwicklung". Noch höher waren die beobachteten Defizite bei der motorischen und sozio-emotionalen Entwicklung.
  • Eltern schätzten das Wohlergehen ihrer Kinder als geringer ein, wenn diese nicht ihre gewohnte Kita-Betreuung hatten. Auch die Eltern selbst waren nach eigenen Angaben in diesem Fall gestresster, das galt besonders für Alleinerziehende oder wenn beide Elternteile arbeiteten.
  • Kita-Leitungen berichteten ebenfalls von Belastungen, etwa "durch die wiederkehrende Einführung und Aufhebung von Schutzmaßnahmen", aber auch wegen Ansteckungsängsten bei Erzieherinnen und Erziehern. Zudem gab es teils "Spannungen mit Eltern".
  • Längst nicht alle Kita-Kinder waren wegen der Schließungen zuhause. Der niedrigste Wert mit nur 45 Prozent betreuten Kindern wurde im Januar 2021 gemessen. Im Umkehrschluss heißt das: Mehr als die Hälfte der Kinder ging auch zu diesem Zeitpunkt in die Kita.

"Zuletzt war ihr Anteil wieder rückläufig"

Bleibt die zentrale Frage, welche Rolle Kita-Kinder für die Ausbreitung des Corona-Virus spielten und wie ihre eigene Infektion verlief. Die Studie hält fest: "Der Verlauf der gemeldeten Infektionsfälle zeigte, dass Kinder immer dem Geschehen eher folgten als diesem vorausgingen." Bei allgemein hohem Infektionsgeschehen komme es auch vermehrt zu Ausbrüchen in Kitas. "Zu Beginn der Pandemie machten Kita-Kinder ca. 38 Prozent an allen Kita-Ausbruchsfällen aus, zwischenzeitlich stieg ihr Anteil auf etwa 62 Prozent an (Beginn 2022), zuletzt war ihr Anteil wieder rückläufig."

Kritiker der Studie monieren, dass sie im Grunde nichts darüber aussage, ob Kitas über- oder unterdurchschnittlich zur Corona-Verbreitung beigetragen haben. Dass eine Corona-Infektion für Kinder statistisch gesehen ungefährlicher ist als für ältere Menschen, ist dagegen schon länger bekannt. Auch die aktuelle Kita-Studie kommt zu diesem Fazit: "Kinder hatten selten schwere Krankheitsverläufe." Schwere Beschwerden wie Atemnot gab es demnach nur sehr selten, "Schnupfen war das häufigste Symptom". Gut ein Drittel der infizierten Kinder habe gar kein Symptom entwickelt.

Ministerium: Masken für Erzieherinnen weiter denkbar

Das bayerische Gesundheitsministerium will die Ergebnisse der Kita-Studie "auswerten und prüfen". Ein Sprecher teilte auf BR24-Anfrage mit: "Man darf aber nicht vergessen, dass zu Beginn der Pandemie die Studienlage nicht eindeutig war, ob Kinder Treiber des Infektionsgeschehens sind." Dass viele Kinder ohne Symptome infiziert seien, habe "Anlass zur Sorge gegeben, dass dadurch Infektionen unerkannt weitergegeben werden können". Die damaligen Entscheidungen beruhten demnach "auf einer schwierigen Abwägung in der dramatischen Pandemiesituation".

Laut dem Ministeriumssprecher sind die Studien-Ergebnisse allerdings auch eine Bestätigung dafür, dass Schließungen von Kitas für die Corona-Politik der Zukunft kein Mittel mehr seien. Flächendeckende Kita-Schließungen seien zudem aktuell nach der derzeitigen Fassung des Infektionsschutzgesetzes nicht mehr möglich.

Völlige Corona-Entwarnung für die Kitas gibt es nach der Einschätzung des Gesundheitsministeriums in Bayern aber noch nicht. Einerseits erklärte der Sprecher: Die Ausgangslage sei im dritten Jahr der Pandemie eine andere, unter anderem wegen der hohen Immunität in der Gesellschaft. Andererseits sagte er: "Auch diesen Winter kann es zu vermehrten Corona-Infektionen kommen. Für Kita-Kinder bedeutet das Lüften, kleinere Gruppen und möglicherweise auch Maskentragen für Erzieherinnen und Erzieher, wenn die Lage es erforderlich macht."

"Schwierige Gratwanderung" oder "schlechte Flucht nach vorne"?

Insofern bleibt die Einschätzung, ob die mehrmonatigen Kita-Schließungen im Rückblick nachvollziehbar oder falsch waren, wohl letztlich subjektiv. Darauf weist auch die Virologin Isabella Eckerle hin. "Die Neubewertung von Maßnahmen zu Beginn der Pandemie, mit dem Wissen nach fast 3 Jahren Forschung und Zirkulation des Virus, ist eine schwierige Gratwanderung", twitterte Eckerle. Am Anfang müsse man ohne Daten Entscheidungen treffen. "Die können im Nachhinein auch fehlerbehaftet sein."

Ungleich kritischer äußerte sich dagegen der Virologe Klaus Stöhr. Er attackierte Bundesgesundheitsminister Lauterbach nach der Vorstellung der Studie. Es sei falsch, dass erst mit dem heutigen Wissensstand klar sei, dass sich Kita-Kinder unproportional an der Pandemie beteiligt hätten. Seit spätestens Anfang 2021 habe es "gute Daten" auch aus Deutschland gegeben. Mit Blick auf Lauterbachs Äußerungen twitterte Stöhr: "Demagogie ersten Grades, Whitewashing oder eine schlechte Flucht nach vorn?"

Familienministerin Paus: Kindeswohl künftig "an erster Stelle"

Ebenfalls deutlich meldete sich am Mittwoch Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) zu Wort. Bei der Vorstellung der Studie betonte sie: Kinder hätten in der Pandemie oft weniger am Virus selbst als an den Folgen der Eindämmungsmaßnahmen gelitten. Und Kinder, die am meisten von frühkindlicher Bildung und Förderung profitieren könnten, trügen der Studie zufolge besonders schwer an den Folgen der Eindämmungsmaßnahmen.

Die Familienministerin verwies auch darauf, was die drei häufigsten psychischen Erkrankungen von Kindern im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie seien: Depressionen, Angststörungen und Essstörungen. Paus' Fazit: "In Zukunft muss das Kindeswohl unbedingt an oberster Stelle stehen."

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