Bildrechte: BR24
Videobeitrag

Angela Merkel bei "Farbe bekennen" in der ARD

Bildbeitrag
>

ARD-Interview: Merkel zu den Herausforderungen der GroKo

ARD-Interview: Merkel zu den Herausforderungen der GroKo

Gut ein halbes Jahr nach der Wahl steht die neue große Koalition - und sie steht vor großen Herausforderungen: Gelingt es, den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken? Angela Merkel nimmt im ARD-Interview dazu Stellung.

Direkt im Anschluss an ihre Wahl und Ernennung zur Bundeskanzlerin stellte sich Angela in der ARD-Sondersendung "Farbe bekennen" den Fragen der Chefredakteurin Fernsehen im ARD-Hauptstadtstudio Tina Hassel und des ARD-Chefredakteurs Rainald Becker:

Frau Merkel, was ist denn in Ihnen so vorgegangen, als sie da saßen, auf das Ergebnis warteten, das Ergebnis dann gehört haben - haben Sie nachgerechnet, haben Sie sich gefragt, welche 40 Abgeordneten aus den eigenen Reihen sie nicht gewählt haben?

Angela Merkel: Nein. Ich hatte ja die Stimmenzahl im Kopf, die notwendig ist, um als Bundeskanzlerin gewählt zu werden und ich war sehr froh und habe eigentlich sehr aufmerksam dem Bundestagspräsidenten gelauscht. Und ich bin einfach froh für das Vertrauen, muss ich sagen, das ist die vierte Wahl nach schwieriger Regierungsbildung, nachdem die große Koalition insgesamt weniger Stimmen hat als das letzte Mal, mit großen Aufgaben vor uns. Aber das ist schon auch viel Vertrauen und dafür bin ich sehr dankbar.

Sie haben es gerade gesagt: Die vierte Wahl - viele im Land sind jetzt erleichtert, dass wir wieder eine Regierung haben. Aber es gibt auch viele, die denken, schon wieder ein "Weiter so" mit der ewigen Kanzlerin Merkel. Wenn sich so viele Menschen von der etablierten Politik abwenden, sind Sie nach zwölf Jahren vielleicht nicht nur Teil der Lösung, sondern längst auch Teil des Problems?

Ja, ich glaube, dass es ein "Weiter so" überhaupt nicht geben kann, weil die Probleme vollkommen anders geworden sind. Und es geht ja in einer Demokratie - und ich bin 1990 in die Politik gegangen, weil es um Demokratie geht - darum, Mehrheiten zu bekommen. Die haben wir bekommen, auch wenn sie kleiner ausgefallen sind, als wir uns das vielleicht alle gewünscht hätten. Und mit diesem Auftrag haben wir jetzt monatelang versucht, eine Regierung zu bilden. Aber dass das schwierig war und dass wir vor allen Dingen auch auf die Probleme, die viele Menschen haben, Antworten geben müssen, das hat sich schon durch die Erarbeitung des Koalitionsvertrags gezogen. Und das wird sich auch durch die Regierungsarbeit ziehen. Also ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit ist da. Und ich glaube, das teilen auch alle Mitglieder des Kabinetts.

Jetzt wollen sie ja eine große Koalition für die kleinen Leute. Wie aber wollen Sie denn den Protestwählern beibringen, dass die nicht doch vom kleinsten gemeinsamen Nenner der abgewählten regiert werden?

Wir wollen eine Koalition sein, die alle Menschen im Lande anspricht und dazu geht es nicht darum, jemandem etwas beizubringen - das ist nicht mein Ansatz, sondern es geht darum, Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr Leben in Deutschland gestalten zu können in unserem Land und dazu die Probleme, die sie haben und die sie für sich sehen, zu lösen und gleichzeitig die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir auch den Schwächeren im Lande helfen können. Das muss ja alles in einer Balance sein zwischen den Generationen, zwischen den Regionen. Und das ist sehr viel Arbeit.

Haben Sie da Prioritäten bei den Themen, Frau Bundeskanzlerin? Was packen Sie zuerst an?

Na ja, wir packen einmal an die Zukunftsfähigkeit - wie sichern wir die heutige Situation, dass auch in Zukunft viele Menschen Arbeit haben. Angesichts großer Veränderungen, weltweiten Wettbewerbs, auch zunehmenden Protektionismus - und gleichzeitig, wie verteilen wir das, was wir uns erarbeiten, ohne Schulden für die nachfolgenden Generationen zu machen, so, dass es in Stadt und Land und bei denen, die auch Not haben, die Probleme haben, ankommt.

Frau Bundeskanzlerin, der Bundespräsident hat heute ungewöhnlich deutlich gemahnt, er hat gesagt, wir hätten jetzt eine Bewährungsprobe für die Demokratie und er hat die Regierung gemahnt, sie müsse sich um die Themen kümmern, die auf der Straße liegen, die den Bürgern wirklich auf den Nägeln brennen. Heißt das nicht, Sie haben in der letzten Regierung an den Menschen vorbei regiert?

Nein, das glaube ich nicht. So sehe ich das auch gar nicht. Der Bundespräsident hat glücklicherweise uns einen politischen Auftrag gegeben und ich glaube, das ist seine Rolle und das nehmen wir sehr ernst. Er hat die Bildung einer Regierung im Rahmen seines Auftrages unterstützt und jetzt hat er uns gesagt, was notwendig ist. Und ich glaube, das widerspiegelt sich aber auch in dem, was wir uns erarbeitet haben.

Aber es brauchte diese Mahnung, hat er anscheinend gedacht.

Nein, das glaube ich nicht, aber ein Bundespräsident kann doch in diesen Zeiten nach fast sechsmonatiger Regierungsbildung nicht einfach so tun, als wäre alles paletti, sondern der muss doch auch auf die Dinge hinweisen. Der Bundespräsident war gerade in Nordrhein-Westfalen, hat von wunderbaren Schätzen und Kulturerbe bis hin zu Duisburg-Marxloh gesehen, wo die Unterschiede im Land liegen und ich hab da auch eine ungefähre Vorstellung davon, und deshalb machen wir uns ja heute auch schon an die Arbeit.

Frau Bundeskanzlerin, haben Sie auch ein Ziel in Sachen AfD? Wollen Sie die größte Oppositionspartei, die es jetzt im Deutschen Bundestag gibt, wollen Sie die am Ende der kommenden Legislatur aus dem Deutschen Bundestag verdrängen?

Wir haben das Ziel, die Probleme derer zu lösen, die jetzt aus Protest auch diese Partei gewählt haben und das heißt, natürlich ist unser Anspruch, dass wir sie kleiner machen und möglichst aus dem Deutschen Bundestag wieder heraus bekommen, aber vor allen Dingen erst einmal die Probleme der Menschen lösen.

Jens Spahn hat die wichtige Armutsdebatte angestoßen, aber verbunden mit einer Provokation. Er hat gesagt, wer von Hartz IV lebt, sei nicht arm. Haben Sie sich darüber eigentlich geärgert oder würden Sie ihm sogar zustimmen?

Also, erst einmal ist das Thema, dass diejenigen, die von Hartz IV leben, nicht viel Geld haben. Das ist vollkommen klar. Gleichzeitig ist unser System eines, das das Notwendige auch Menschen gibt, die arbeitslos sind, die in Not geraten sind. Das ist auch immer wieder überprüft worden vom Bundesverfassungsgericht, weil das natürlich eine breite Diskussion ist. Ich glaube, diese Diskussion ist latent immer da.

Wir haben über die Tafeln gesprochen, wir haben über die Frage gesprochen, was ist Teilhabe, sehr viel in den Koalitionsverhandlungen, gerade für Kinder, die aus Elternhäusern kommen, wo Eltern von Hartz IV leben, was können wir da machen, um die Kinder nicht sozusagen auch in ein bestimmtes Schicksal hineinzubringen. Aber das ist eine allgemeine Debatte, und die muss geführt werden, natürlich, aber sie muss so geführt werden, dass wir sagen, möglichst viele dieser Menschen, die heute nicht die Möglichkeit haben, ihren eigenen Lebensunterhalt Unterhalt zu verdienen, müssen wieder in Arbeit kommen. Das ist das, was uns vor allen Dingen bewegt.

Kurz noch, heute hat die Nationale Armutskonferenz eine deutliche Anhebung der Sozialleistungen gefordert. Würden Sie da mitgehen?

Nein, wir haben ein ziemlich gutes System. Wir gucken uns immer die 20 Prozent derer an, die im Arbeitsleben stehen, nicht von staatlicher Grundsicherung abhängig sind und deren Einkommensentwicklung ist der Maßstab für die Erhöhung der Grundsicherungssätze, die wir dann gemeinhin Hartz IV nennen. Das heißt, wir müssen ja auch immer gucken, dass derjenige, der arbeitet, mehr hat, als wenn er nicht arbeiten würde und trotzdem gleichzeitig das menschenwürdige Leben ermöglichen, wobei das auch wirklich Menschen sind, die Probleme haben, wenn es um größere Ausgaben geht. Das ist ganz klar.

Frau Merkel, ein anderer an ihrem Kabinettstisch, Horst Seehofer, der hat einen Masterplan für schnellere Abschiebungen gefordert. Heißt das, dass sich der Fokus in der Flüchtlingspolitik schleichend von Integration hin zu Abschiebungen verschiebt? Glauben Sie, dass die SPD da mitmacht?

Nein, darum geht es ja gar nicht. Es geht darum, dass wir Recht und Gesetz in Deutschland durchsetzen - sowohl für diejenigen, die hier einen Aufenthaltsanspruch haben, da ist das große Thema der Integration, der schnellen Integration, auch der Möglichkeiten, Arbeit zu finden - und auf der anderen Seite erwarten die Menschen, glaube ich, mit Recht, dass diejenigen, die keinen Rechtsstatus haben, um sich hier aufzuhalten, in Deutschland, dann auch wieder in ihrer Heimat müssen.

Und drittens müssen wir daran arbeiten, Fluchtursachen zu bekämpfen, also illegale Migration einzudämmen, Schleppern und Schleusern nicht zu helfen, die Menschenleben auch in Gefahr bringen und gleichzeitig Menschen vor Ort mehr Perspektiven zu geben, das ist ein Dreiklang und illegale Migration kann auch nur geringer gemacht werden, wenn wir gleichzeitig deutlich machen, dass diejenigen, die keinen Aufenthaltsstatus haben auch das Land wieder verlassen.

Aber nochmal nachgefragt: Es wird mehr und schnellere Abschiebungen geben?

Unser Ziel ist, dass wir diejenigen die keinen Aufenthaltsstatus haben, auch wieder zurück in ihre Heimat schicken. Im übrigen ist das Ziel, dies möglichst freiwillig zu tun. Dafür gibt es auch Rückkehrhilfen, damit Menschen nicht völlig ohne jede Möglichkeit zum Neuanfang zurückgehen. Aber wir können unsere humanitären Aufgaben nicht erfüllen, wenn wir so tun, als könnten wir das auch für diejenigen leisten, die keinen Aufenthaltsstatus haben.

Wir haben jetzt über die gesprochen, die künftig am Kabinettstisch sitzen - wer da nicht sitzt, ist die künftige SPD-Chefin Andrea Nahles - hätten Sie sie da gerne gehabt, wären dann möglicherweise weniger Querschüsse und Reibungsverluste mit der SPD da mit eingebunden gewesen?

Das ist ja die Entscheidung jeder Partei, die in der Koalition mitarbeitet, wie sie ihre Aufgabenteilung macht. Ich habe gerne mit Andrea Nahles als Arbeitsministerin zusammengearbeitet, aber als Fraktionsvorsitzende und Parteivorsitzende werde ich das auch tun. Natürlich ist das eine andere Rolle. Und die SPD hat das ja auch immer wieder betont, dass sie gleichzeitig auch ihre eigene Erneuerung voranbringen will.

Aber auch wir haben in der CDU, wenn ich das jetzt mal als CDU-Vorsitzende sagen darf, ja sehr bewusst Entscheidungen getroffen, auch ich, eine Generalsekretären zu haben, die auch den Grundsatzprogramm-Prozess und die Arbeit der Partei stärkt und zwar aus dem Grunde, dass wir in Zeiten unglaublicher Veränderung leben und da müssen die Volksparteien Antworten darauf finden und das finde ich, sind Arbeitsteilungen, die sind eben so gewollt und gemacht und deshalb ...

Es wird spannend in der Regierung, wenn sich drei Parteien profilieren und ihr Profil schärfen wollen!

Das war in der Vergangenheit nicht anders. Es geht jetzt nur wirklich darum, auch Ergebnisse zu erzielen für die Menschen.

Frau Merkel, es wird auch in den nächsten Wochen und Monaten, es muss um Außenpolitik gehen. Droht uns jetzt, droht Deutschland und Europa ein Handelskrieg? Was können Sie eigentlich tun, um den US-Präsidenten davon abzuhalten, beispielsweise unsere Automobilindustrie mit Zöllen zu belegen?

Also, ich glaube insgesamt gibt es eine ziemliche Krise des Multilateralismus und die beste Antwort darauf ist erst einmal Multilateralismus in Form der Europäischen Union, also einheitliches Verhalten der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Das ist das, was wir einbringen können. Zweitens Gespräche. Und drittens natürlich, keine Angst, wenn es notwendig ist - was wir nicht wollen - eben auch Maßnahmen ergreifen zu müssen. Aber wir setzen jetzt im nächsten Schritt erst einmal auf Gespräche, wie das die Kommission ja auch tut.

Den Draht haben Sie aber zu ihm?

Ja, selbstverständlich haben wir Beziehungen und sprechen wir miteinander und das wird sicherlich nach meiner Wahl jetzt eher mehr werden als in einer geschäftsführenden Bundesregierung. Wir waren ja in den letzten Monaten nun auch nicht mehr der Partner, wo man genau wusste, wie geht es weiter in Deutschland. Das ist heute, glaube ich, schon eine wichtige Botschaft auch, dass wir wieder besser agieren können als Bundesregierung.

Noch eine Nachfrage: Wir haben noch ein paar Tage Zeit als Europäer, die USA zu überzeugen, auch Europa auszunehmen von diesen Zöllen. Glauben Sie, dass das gelingt und wenn nicht, ist das dann nicht genau der Einstieg in die Eskalationsspirale bei Sachen wie Zöllen?

Wir werden das versuchen. Ich kann das nicht vorhersagen, ob das gelingt oder nicht gelingt. Wir haben immer wieder gesagt, wir wollen faire Handelsbeziehungen und auf der Grundlage der WTO Abmachungen müssen dann natürlich erst einmal die Gespräche starten. Und gleichzeitig gibt es ja noch viele andere Handelspartner - China, Korea und viele andere - und wir werden an den Handelsabkommen weiterarbeiten und auch mit den anderen Partnern darüber reden, dass aus unserer europäischer Sicht, aus meiner Sicht, aus deutscher Sicht Protektionismus nicht die richtige Antwort ist.

Wie geht es jetzt eigentlich weiter mit Russland nach dem Giftanschlag auf britischem Boden? Das Ultimatum ist heute Nacht abgelaufen. Jetzt hat Großbritannien 23 Diplomaten ausgewiesen. Was können Sie da eigentlich machen? Und vor allen Dingen, die Frage stellt sich ja, können und wollen Sie da vermitteln?

Da geht es, glaube ich, im Augenblick nicht um Vermittlung. Wir nehmen die Befunde der britischen Regierung natürlich sehr ernst. Ich habe gestern mit Theresa May telefoniert. Wir werden auch hier eine einheitliche europäische Meinung herstellen.

Wir haben mit Russland ja über diesen Fall hinaus, der ernst genug zu nehmen ist, und bei dem ich meine, dass Russland vor allen Dingen jetzt der internationalen Chemiewaffen-Konvention ganz offen über sein Programm von diesem Mittel sprechen sollte, haben wir eine Vielzahl von Konflikten, wenn ich mal an Syrien denke, wenn ich an die Ostukraine denke. Und all das auf der einen Seite. Wir müssen mit Russland immer wieder sprechen, auch kontrovers. Aber wir haben auch große Meinungsunterschiede.

Die Nato hat sich heute positioniert. Theresa May hat ja selber von einem Angriff auf Großbritannien gesprochen. Heute gibt es den UN-Sicherheitsrat mit einer Sitzung - auf was genau warten die Europäer? Dass kurz vor einer Wahl sich Präsident Putin hinstellt und sagt, Ja wir waren es, oder was genau brauchen Sie von russischer Seite?

Na ja, es wäre schon Transparenz sehr wichtig von russischer Seite - ich meine, die Befunde sind ernst zu nehmen. Und zweitens, bei der Nato sind wir ja dabei, wenn sich die Nato positioniert, hat hat sich ja Deutschland auch positioniert. Wir sind ja Mitglied der Nato. Nächste Woche wird sich der Europäische Rat treffen und dann werden wir das in ähnlicher Weise tun. Ich sag trotzdem, wir können jetzt auch nicht alle Kontakte abbrechen, denn man muss ja auch mit den russischen Verantwortlichen immer wieder sprechen. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten.

Tun Sie das? Vermitteln Sie, sprechen Sie?

Es geht nicht um Vermitteln. Es geht um Ansprechen und es geht auch um das Benennen von Widersprüchen, von unterschiedlichen Meinungen. Es geht dann um den Versuch, Wege zu finden. Sie wissen, wie mühevoll das mit der Ostukraine ist. Aber es muss immer und immer wieder gemacht werden.

Frau Bundeskanzlerin, zum Schluss: Ist ihre vierte Amtszeit, die heute begonnen hat, ihre letzte?

Heute hat eine vierte Amtszeit begonnen und heute konzentriere ich mich voll auf den Beginn und dann auf den Beginn der Arbeit.

Aber nochmal konkret, was heißt das?

Schauen Sie, ich könnte jetzt sagen, Sie kennen mich doch - ich gebe die Antworten immer dann, wenn es notwendig ist.

Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin. Das war "Farbe bekennen" mit Bundeskanzlerin Angela Merkel.