Die Taliban in Afghanistan haben Frauen die Arbeit in Nichtregierungsorganisationen (NGOs) verboten "Für uns kam dieses Verbot sehr überraschend", berichtet Christina Ihle, Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins: "Wir haben selbst mit vielen Behördenvertretern vor Ort gesprochen, die ebenfalls sehr überrascht waren."
Die Wirtschaft in Afghanistan ist seit der Machtübernahme der Taliban nahe zu kollabiert. Ihle schätzt, dass über 90 Prozent der afghanischen Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Doch die kann von den Hilfsorganisationen durch das Arbeitsverbot für weibliche Mitarbeiterinnen nicht mehr in vollem Umfang gewährleistet werden.
"Wir müssen solche Erlasse ernst nehmen"
Aktuell versorge der Afghanische Frauenverein 200.000 Menschen vor Ort, so Ihle. Insgesamt würden 210 Menschen für ihren Verein arbeiten, 60 Prozent davon Frauen: "Sie alle sind Afghaninnen und arbeiten vor allem als Lehrerinnen, Ausbilderinnen in Schneiderinnen oder Hebammen."
Momentan dürfen nur die Hebammen weiterarbeiten – denn Frauen, die im medizinischen Bereich tätig sind, sind von dem Verbot der Taliban ausgenommen. Alle anderen, auch die Lehrerinnen, haben sie "ins Homeoffice" geschickt, was bedeutet, dass Schülerinnen ebenfalls zu Hause bleiben und nicht unterrichtet werden. "Als lokale NGO müssen wir solche Erlasse ernst nehmen, sonst bekommen wir die Lizenz entzogen", so Ihle.
Reinhard Erös ist Vorsitzender der "Kinderhilfe Afghanistan", die ihren Sitz in Mintraching in der Oberpfalz hat und unter anderem Schulen in Afghanistan betreibt. Auch dort bleiben die Lehrerinnen vorerst zu Hause. "Wir haben sie und die Schülerinnen vor wenigen Tagen vorerst nach Hause geschickt", so Erös. Ihr Gehalt bekämen sie weiterhin, man warte darauf, bis sich die Lage wieder "beruhigt" habe. Insgesamt arbeiteten rund 250 Frauen vor Ort für die Kinderhilfe.
Fatale Folgen für den Bildungssektor
Als Grund für das Arbeitsverbot gaben die Taliban an, dass sich Frauen, die für Nichtregierungsorganisationen arbeiten, nicht an die strengen Scharia-Regeln gehalten und sich nicht ausreichend verhüllt hätten.
Ihle kann diesen Vorwurf nicht nachvollziehen: "Ich glaube, dass alle sehr, sehr gewissenhaft waren, auch, was die Geschlechtertrennung angeht." So würden an den Schulen des Afghanischen Frauenvereins Mädchen ausschließlich von Frauen unterrichtet und betreut.
Wenn keine Frauen mehr arbeiten dürften, habe das nicht nur für den Bildungssektor fatale Folgen: "In Afghanistan können in vielen Bereichen nur Frauen andere Frauen erreichen." Die meisten Frauen, die von ihren Mitarbeiterinnen versorgt werden, seien auf der Flucht und lebten mit ihren Kindern in Zelten: "Da kann kein Mann hingehen und mit ihnen sprechen – das ist gesellschaftlich nicht akzeptiert."
Viele Hilfsorganisationen stellen Arbeit ein
Hilfsorganisationen wie Care, Save The Children oder Caritas international hatten als Reaktion auf das Arbeitsverbot für Frauen angekündigt, ihre humanitäre Arbeit und damit verbundene Hilfsleistungen vorerst einzustellen. Auch Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze (SPD) plädierte für das Aussetzen von Hilfen. Für Christina Ihle vom Afghanischen Frauenverein ist das jedoch keine Option: "Wir können diese Menschen jetzt nicht verhungern lassen." Deswegen müssten sie auch weiterhin mit den Taliban "im Dialog" bleiben.
Simone Pott von der Welthungerhilfe sieht das anders. Ihre Organisation habe in diesem Jahr 500.000 Menschen in Afghanistan versorgt. Trotzdem hat die Organisation ihre Hilfen vorerst eingestellt: "Wir machen gerade keine Feldbesuche und es finden auch keine Verteilungen von Nahrung statt." Es sei wichtig, jetzt ein Zeichen zu setzen – "im besten Fall gemeinsam".
Die Taliban sollen Druck spüren
Laut Pott arbeiten 55.000 Afghanen für Nichtregierungsorganisationen, davon seien 28 Prozent Frauen. "Wenn wir unsere Hilfe fortsetzen und unsere weiblichen Kolleginnen kündigen, verletzen wir eines unserer humanitären Prinzipien: keine Diskriminierung aufgrund Geschlecht, Alter oder Religion", sagt sie.
Pott hofft, mit der Unterbrechung der humanitären Hilfen Druck auf die Taliban auszuüben: "Wenn viele Hilfsorganisationen ihre Arbeit aussetzen, hat das massive Auswirkungen auf die Versorgungs- und Ernährungslage im Land." Sie äußert sich besorgt über die Entwicklung, dass Frauenrechte in Afghanistan immer weiter eingeschränkt werden: "Sie können ihre Töchter bereits nicht mehr auf höhere Schulen oder Universitäten schicken. Und jetzt sollen sie auch nicht mehr arbeiten dürfen."
Die Hilfsorganisationen befänden sich "in einem irren Dilemma": "Wir sehen, dass Menschen leiden, wenn Hilfe eingestellt wird", so Pott. Trotzdem setze die Welthungerhilfe den Boykott vorerst fort.
Weltweite Empörung über Taliban-Erlass
Reinhard Erös von der "Kinderhilfe Afghanistan" hält das für falsch und warnt vor einer humanitären Katastrophe: "Dieser Boykott wird nicht den Taliban schaden, sondern der Bevölkerung." Schon jetzt würden Zehntausende an Hunger sterben: "Wenn Hilfsorganisationen jetzt ihre Arbeit einstellen, sterben noch mehr." Er hoffe, dass die Taliban diesen "Unsinn" bald wieder aufheben.
Politiker weltweit haben das Verbot verurteilt, neben Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats hat unter anderem auch die EU die Aufhebung des Verbots gefordert. Simone Pott von der Welthungerhilfe hofft auf die Vereinten Nationen, deren Vertreter aktuell mit der Taliban-Regierung über das Arbeitsverbot für Frauen verhandeln.
Eine Prognose, ob und wann das Verbot aufgehoben wird, will Pott aber nicht geben. Sie deute es aber als ein "gutes Zeichen, dass viele Akteure miteinander reden". Auch innerhalb der Taliban gebe es Uneinigkeit über das Verbot, der Wirtschaftsminister sei "nicht glücklich" darüber. Und die lokalen Taliban-Autoritäten hätten ebenfalls ein Interesse daran, dass die Bevölkerung in ihren Provinzen weiterhin versorgt würden.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!