2012 sorgte die Entdeckung von CRISPR/Cas9 für großes Aufsehen in der Wissenschaft. Mit der Genschere lässt sich die DNA von Organismen schneller und präziser verändern als zuvor. Die Technologie kann sowohl beim Menschen angewendet werden, in der sogenannten roten Gentechnik, als auch bei Pflanzen, in der grünen Gentechnik.
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Forscher fordern Lockerung des Gentechnikrechts
In Deutschland und Europa klagen nun immer mehr Wissenschaftler, dass das Potenzial dieser neuen, grünen Gentechnik nicht ausgeschöpft werden könne, denn bislang wird hauptsächlich damit geforscht. Auf den Acker kommen genom-editierte Pflanzen kaum bis gar nicht, denn sie werden so streng reguliert wie Organismen aus der klassischen Gentechnik.
Damit brauche es Zulassungsverfahren, die so viel Aufwand bedeuten, dass sie sich nicht lohnen, sagt Nicolaus von Wirén, Agrarbiologe am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben.
Unterscheidung zwischen "alter" und "neuer" Gentechnik
Forscher kritisieren, dass juristisch nicht ausreichend zwischen der alten Gentechnik und der neuen Genom-Editierung unterschieden wird. Bei der alten Technologie werden unter anderem artfremde Gene eingebaut, wie etwa beim BT-Mais, um ihn resistent gegen Schädlinge wie den Maiszünsler zu machen.
In Deutschland hat sich diese Technologie nie durchgesetzt; der Widerstand aus der Bevölkerung war zu groß. In Brasilien etwa hat sich gezeigt, dass die Erträge dadurch teils gesunken sind und der Pestizideinsatz sogar zugenommen hat. Der Grund: Unkräuter und Insekten sind resistent geworden.
Bei der neuen Genom-Editierung mit der Genschere CRISPR sollen nach den Forderungen vieler Wissenschaftler keine artfremde Organismen eingebracht werden. Sie wollen mit ihr vor allem Punktmutation vornehmen dürfen, so dass die Pflanzen später nicht von herkömmlich gezüchteten zu unterscheiden sind.
Hoffnung: Mehr Ertrag und Umweltschutz
Eine neue Sorte zu züchten, dauert häufig mehr als zehn Jahre. Mit der Genschere gehe das schneller, sagen Experten, und das sei angesichts der enormen Herausforderungen in der Zukunft wichtig. Die Weltbevölkerung hat gerade die Acht-Milliarden-Marke überschritten, laut den Vereinten Nationen könnten es bis zum Jahr 2100 an die elf Milliarden werden.
Stephen Clemens, Professor für Pflanzenphysiologie an der Uni Bayreuth, schätzt, dass wir in den kommenden Jahrzehnten 60 bis 70 Prozent mehr Ertrag aus der Landwirtschaft brauchen, um alle Menschen satt zu bekommen. Gleichzeitig müsse die Landwirtschaft umweltfreundlicher werden, indem also Pflanzen gezüchtet werden, die weniger Dünger und weniger Pflanzenschutzmittel benötigen. Stephan Clemens plädiert für eine nachhaltige Intensivierung durch Genom-Editierung.
Forscher fordern Umkehr der Risikobewertung
Er und viele andere Forscher fordern deshalb eine Lockerung des Gentechnikrechts. Durch lange Biosicherheitsforschung wisse man, dass das Risiko nicht größer sei als bei klassischer Züchtung, sagt Robert Hoffie, Pflanzenbiotechnologe am Leibniz-Institut in Gatersleben. So sehen es auch die Wissenschaftler von der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina; sie wollen eine Umkehr in der Risikobewertung: Nicht das eingesetzte Verfahren - sondern das Ergebnis der Züchtung soll entscheidend sein.
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Klimawandel und immer mehr Menschen, die ernährt werden müssen. Neue gentechnische Verfahren in der Pflanzenzüchtung könnten da eine Lösung sein.
Kritiker warnen vor Folgen für das Ökosystem
Es gibt aber auch Kritiker der neuen Technologie. Der studierte Tierarzt Christoph Then vom Münchner Institut "Testbiotech" findet, dass die Risiken systematisch ignoriert werden. Er fürchtet: Wenn zu viele von den neuen Organismen zu rasch und kontrolliert entlassen werden, könne unser Ökosystem aus dem Gleichgewicht geraten. Diese Sicht widerspricht dem breiten wissenschaftlichen Konsens, vereinzelt gibt es aber diese Sorge.
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CRISPR bringe Patent-Wahnsinn und Rechtsunsicherheiten
Laut Then spricht noch mehr gegen die neue Technologie. Er sorgt sich auch um die Freiheit in der Pflanzenzüchtung. Seit Jahrzehnten kämpft er gegen die Patentierung von Saatgut, wie etwa bei der Braugerste. Er vermutet, dass durch die Genschere große Rechtsunsicherheiten auf Züchter zukommen.
Im Bereich der CRISPR-Technologie wurden inzwischen mehr als 10.000 Patente angemeldet, über 1.000 in der Pflanzenzüchtung. Seine große Angst: Durch die Genschere hält ein, so Then wörtlich, "Patentierungs-Wahnsinn" Einzug. Denn wer sie verwendet, kann sich unter Umständen genetische Sequenzen und die darauf beruhenden Pflanzenmerkmale patentieren lassen. Seine Angst: Landwirte und Verbraucher werden immer abhängiger von großen, multinationalen Saatgutunternehmen.
Bio-Landwirte verlangen Systemwechsel
Auch viele Bio-Landwirte sind gegen die neue, grüne Gentechnik, wie etwa Michael Steinmaßl aus der Nähe von Traunstein. Er glaubt, dass die Wissenschaft das Risiko für die Umwelt nicht einschätzen kann. Vor allem aber glaubt er nicht an die Versprechungen der Industrie, die mit der Bekämpfung des Welthungers argumentiert. Das Problem sei vielmehr, dass knapp 60 Prozent des Getreides in den Trog wandern, um unseren Fleischhunger zu stillen. Und Umweltschutz funktioniere nicht durch die Optimierung einzelner Pflanzen, sondern durch Vielfalt auf dem Feld.
Öko-Verbände sammeln Unterschriften-Liste gegen Deregulierung
Der "Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft" (BÖLW) sieht das genauso und kämpft deshalb gegen die Gentechnik. Der Verband hat bis Dezember 2022 mehr als 400.000 Unterschriften gegen die Deregulierung gesammelt - um dem Bundesumweltministerium die Ablehnung vieler Verbraucher klarzumachen. Öko-Verbände setzen auf "ganzheitliche und nachhaltige Lösungen statt Risikotechnologien", heißt es auf der Homepage.
Die FDP sieht große Chancen
Auch politisch ist die grüne Gentechnik umstritten. Die FDP ist für eine Lockerung des Gentechnikrechts. Carina Konrad, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und selbst Landwirtin, fordert eine faktenbasierte Debatte. Sie hält manche Ängste für unbegründet. Es brauche moderne Pflanzenzüchtung, um die Biodiversität voranzubringen und um den Einsatz von Pflanzenschutzmittel zu reduzieren.
Und wie sieht es der Bundeslandwirtschaftsminister? Für die europäische Politik ist es wichtig, wie sich Deutschland positioniert. Trotz mehrerer Anfragen über mehrere Monate hat Cem Özdemir keine Zeit für ein Interview mit dem BR. Sein Ministerium teilt mit, dass es am Vorsorgeprinzip festhalte und sich an den Verbrauchern orientiere, die größtenteils dagegen sind.
Das Bundesumweltministerium ist ebenfalls gegen eine Lockerung des Gentechnikrechts. Staatssekretärin Bettina Hoffmann von den Grünen ist davon überzeugt, dass weiterhin mit der Genschere geforscht werden solle, dass die Organismen aber nach wie vor streng reguliert werden müssten, um Schäden für die Umwelt zu vermeiden.
Eine schnelle Entscheidung ist nicht zu erwarten
Wann sich auf EU-Ebene entscheidet, ob das Gentechnikrecht gelockert wird, ist noch nicht klar. Geplant war eine Entscheidung bis zum Sommer 2023. Doch jetzt ist aus Brüssel zu hören: Bis die EU-Kommission einen konkreten Vorschlag unterbreitet, über den im EU-Parlament abgestimmt wird, könnten noch mehrere Jahre vergehen. Bis dahin wird die Debatte wohl weiter an Fahrt aufnehmen.
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