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Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Alt-Moabit, Mitte, Berlin, Deutschland

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"Fehlalarm"-Papier: Warum der Autor kein Whistleblower ist

Seit dem Wochenende kursiert ein Papier aus dem Innenministerium, in dem die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung als "Fehlalarm" bezeichnet werden. Verantwortlich für die "Analyse" ist ein Mitarbeiter, der seine Meinung verbreitet. Ein #Faktenfuchs.

Ein Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums bezeichnet in einer "Analyse" die Warnungen vor der Corona-Pandemie als "Fehlalarm", fordert, die geltenden Maßnahmen "vollständig aufzuheben" und behauptet, dass es durch die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung zu "vermeidbaren Todesfällen" gekommen sei. Wir ordnen das Schreiben mit dem Namen "KM4 Analyse des Krisenmanagements" ein.

  • Dieser Artikel stammt aus 2020. Alle aktuellen #Faktenfuchs-Artikel finden Sie hier

Schreiben stammt von Mitarbeiter der Abteilung "Kritische Infrastruktur"

Verfasser der "Analyse des Krisenmanagements" ist der Oberregierungsrat Stephan K. aus der Abteilung "KM 4". Diese Abteilung des Innenministeriums befasst sich mit dem Krisenmanagement der kritischen Infrastruktur, also den Organisationen und Einrichtungen, die für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens und der öffentlichen Sicherheit relevant sind.

K. verschickte seine Analyse am 8. Mai. Um 14.34 Uhr ging eine Mail an verschiedene Beamtinnen und Beamten im Innenministerium. Eine Stunde später schickte er die Mail an die Innenministerien der Länder. Schon in der vorangestellten Übersicht schreibt K., "die Coronakrise erweist sich wohl als Fehlalarm". In den Anhang der Mail gibt K. sowohl die 83-seitige "Analyse" als auch ein 99-seitiges Quellenverzeichnis.

Sein Text ist in elf Unterpunkte gegliedert. Darin behauptet der Mitarbeiter des Innenministeriums unter anderem, dass die "Gefährlichkeit von Covid-19 überschätzt" wurde, dass das RKI keine brauchbaren Daten liefere und mehrere Millionen Menschen "in Folge der Regierungsmaßnahmen nicht versorgt" würden, da zahlreiche Krankenhäuser Operationen verschieben würden. Er rechnet in seinem Text mit mehreren tausend Menschen, die aufgrund der verschobenen OPs ihr Leben verloren hätten oder noch verlieren würden - auch wenn er zugleich betont, dass die "voraussichtliche Sterberate nicht seriös einzuschätzen" sei. Solche Widersprüche und Schätzungen sind in Analysen eines Ministeriums ungewöhnlich.

Widersprüche und Schätzungen: Ungewöhnlich für Analysen

In seinem Text verweist Stephan K. auf zehn "hochrangige Experten/ Wissenschaftler", deren Aussagen er für "grundsätzlich plausibel" hält. Darunter sind Wissenschaftler, die seit Beginn der Corona-Pandemie vor allem durch verkürzte Aussagen, vorschnelle Schlüsse und irreführende Aussagen aufgefallen sind. So der Mainzer Mikrobiologe Sukharid Bhakdi und der Immunologe Stefan Hockertz. Deren Aussagen prüften wir bereits hier und hier.

Zu den weiteren von K. kontaktierten Wissenschaftlern gehört auch der Heidelberger Pathologe Peter Schirmacher. Schirmacher ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Auf Nachfrage betont die Leopoldina, dass Schirmacher zu "keiner Zeit Mitglied der Arbeitsgruppen" gewesen sei und somit auch nicht an den viel beachteten Stellungnahmen der Leopoldina zur Corona-Pandemie mitgearbeitet. Folglich zählt er nicht zu den Beratern der Bundesregierung in der Corona-Krise, wie in manchen Medien suggeriert wird.

Analyse aus Ministerien in der Regel deutlich sachlicher

Neben den Wissenschaftlern bezieht sich K. in seinem Text ausschließlich auf öffentlich zugängliche Quellen. Diese reichen von wissenschaftlichen Publikationen über Artikel etablierter Medien bis hin zu YouTube-Interviews von Vertretern der sogenannten "Alternativen Medien".

Häufig ist unklar, auf welche Quellen sich K. bezieht. So spricht er davon, dass "bei einer wirklich schweren Pandemie mit Millionen Toten" eine Ausgangssperre unnötig wäre, da "die Menschen von sich aus nicht mehr aus ihrem Haus gehen, wenn um sie herum gestorben wird und jeder falsche Kontakt den Tod innerhalb weniger Tage bedeuten kann." Einen Beleg für die Behauptung liefert er nicht. Darüber hinaus sind es solche Formulierungen, die darauf hinweisen, dass es sich nicht um eine klassische Analyse eines Ministeriums handelt. In der Regel ist die Sprache dort deutlich sachlicher.

"Alternative Medien" greifen Papier auf - Mitarbeiter wird "Whistleblower"

Bereits einen Tag, nachdem K. seine E-Mail an Kolleginnen und Kollegen im Bundesinnenministerium und die Innenministerien der Länder verschickt hatte, griffen die rechtskonservative Plattform "Tichys Einblick" sowie die ebenfalls rechtskonservative Seite "Achse des Guten" das Papier auf. Sie zitierten in weiten Teilen aus dem Bericht und vergleichen K.s Vorgehen mit denen eines "Whistleblowers". Die Enthüllungen erinnerten an den Fall "Watergate". Seither thematisieren zahlreiche weitere Blogger das Papier. Oftmals wird auf diesen Plattformen nicht deutlich gemacht, dass das Papier die Privatmeinung eines Mitarbeiters wiedergibt und keine offizielle Analyse des Ministeriums ist.

Als Whistleblower werden in der Regel Personen bezeichnet, die nicht öffentliche oder geheime Informationen veröffentlichen oder einer breiten Öffentlichkeit über Medien zugänglich machen. Die Quellen, die K. für seinen Text verwendet, sind weitgehend öffentlich zugänglich.

Innenministerium widerspricht: Keine offizielle Analyse, sondern Privatmeinung

Nachdem am Samstag das Papier in den "Alternativen Medien" verbreitet und diskutiert wurde, äußerte sich das Bundesinnenministerium in einem Statement. Darin heißt es, dass es sich um eine "eigenständig vorgenommene Analyse" handle, die nicht vom Ministerium in Auftrag gegeben worden sei. Der Mitarbeiter habe "seine Privatmeinung und ggf. die Meinung anderer an dem Papier Beteiligter zusammengefasst und verbreitet", explizit aber nicht die Haltung des Innenministeriums.

Diese Aussage bekräftigte auch Innenminister Horst Seehofer (CSU) auf einer Pressekonferenz am Mittwoch. Seehofer sprach davon, dass jeder Mitarbeiter des Ministeriums seine eigene Meinung haben könne, dass die "Analyse" jedoch nicht in Auftrag gegeben wurde. Ein Problem sehe Seehofer in der Tatsache, dass der Mitarbeiter "das Amt, die Infrastruktur, die Bezeichnung" nutzte, um seine Texte zu verbreiten. "Da ist eine Grenze erreicht", so Seehofer. Der Mitarbeiter sei mittlerweile freigestellt, arbeitsrechtliche Schritte würden geprüft. Laut Seehofer war der Mitarbeiter nie aktiv mit den Maßnahmen zur Corona-Pandemie befasst.

Seehofer sagte ebenfalls, dass er den Inhalt, also die umfassende Kritik des Mitarbeiters K. am Umgang der Regierung mit der Corona-Pandemie, nicht teile. Seehofer selbst habe die Strategie im Umgang mit der Gesundheitskrise mitentwickelt und mitgetragen. Diese Strategie entspreche "überhaupt nicht diesem Papier". In der Regierungsbefragung am Donnerstag im Bundestag stellte ein Abgeordneter der AfD-Fraktion Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Fragen zu dem Papier. Merkel entgegnete, dass die Bundesregierung die darin geäußerten Einschätzungen nicht teile.

Fazit:

Bei dem Papier, das derzeit in Sozialen Netzwerken verbreitet und von "Alternativen Medien" besprochen wird, handelt es sich um das Schreiben eines Mitarbeiters aus der Abteilung KM 4 des Bundesinnenministeriums. Das Innenministerium betont, dass es sich nicht um eine Analyse des Ministeriums, sondern um die Privatmeinung eines Mitarbeiters handelt, der für die Verbreitung seiner Meinung die Infrastruktur des Hauses genutzt habe. Der Mitarbeiter ist mittlerweile suspendiert. Arbeitsrechtliche Schritte würden geprüft. Er ist kein Whistleblower, da er keine geheimen Informationen veröffentlicht, sondern lediglich öffentlich zugängliche Informationen zusammengetragen hat.

Inhaltlich kritisiert der Mitarbeiter des Innenministeriums die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Mit einer klassischen "Analyse", wie der Verfasser es darstellt, hat dieses Papier wenig zu tun. Mitglieder der Bundesregierung verstehen den Text als Meinungsäußerung. Der Verfasser gibt in seinem Schreiben vor, mit den Einzelheiten der Corona-Bekämpfung im Bundesinnenministerium vertraut und involviert zu sein, dass er es tatsächlich war, geht aus seinen Darstellungen nicht hervor.

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Anmerkung: In einer früheren Version des Textes hieß es, dass der Ministeriumsmitarbeiter von der Online-Plattform "AchGut" als Whistleblower bezeichnet wurde. Das ist nicht korrekt. Lediglich seine Methoden wurden mit denen von Whistleblowern verglichen. Die AfD-Bundestagsfraktion bezeichnet Stephan K. als Whistleblower.