Die Ampelkoalition will den Bundestag verkleinern. Doch CSU und Linke sehen sich durch die Pläne benachteiligt. Wie sieht das Vorhaben der Regierungsfraktionen im Detail aus? Ein Überblick.
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Welche Regeln gelten bisher bei Bundestagswahlen?
Wie sich der Bundestag zusammensetzt, wird bisher nach dem Prinzip der personalisierten Verhältniswahl bestimmt. Wählerinnen und Wähler haben zwei Stimmen. Mit der Erststimme entscheiden sie darüber, welche Kandidatin oder welcher Kandidat ihren Wahlkreis in Berlin vertritt. Wer die meisten Stimmen bekommt, ist direkt gewählt und erhält auf jeden Fall einen Sitz im Bundestag – unabhängig davon, wie die jeweilige Partei insgesamt abschneidet.
Mit der Zweitstimme machen die Wählerinnen und Wähler ihr Kreuz auf der Liste einer Partei. Diese Liste wird auf der Ebene des jeweiligen Bundeslands aufgestellt. Die Stimmen werden dann auf Bundesebene addiert – und auf dieser Grundlage werden Parlamentssitze verteilt. Voraussetzung für die Zuteilung von Mandaten ist in der Regel, dass die betreffende Partei bundesweit mindestens fünf Prozent der Stimmen bekommt.
Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, kommt es zu Überhangmandaten. Denn bisher erhalten siegreiche Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten ja zwingend einen Parlamentssitz. Diese Überhangmandate werden durch Ausgleichsmandate kompensiert. So soll sichergestellt werden, dass der Bundestag das Verhältnis der Stimmenanteile zueinander abbildet – daher der Name Verhältniswahl.
Und noch eine Besonderheit gibt es im bisherigen Wahlrecht: die sogenannte Grundmandatsklausel. Sie ermöglicht es, dass eine Partei in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen kann, auch wenn sie unter der Fünf-Prozent-Hürde bleibt. Allerdings muss die jeweilige Partei dafür mindestens drei Direktmandate holen.
Warum will die Ampel-Koalition das Wahlrecht ändern?
Das bisherige Wahlsystem mit seinen Überhang- und Ausgleichmandaten hat dazu geführt, dass der Bundestag immer größer geworden ist. Mit der zurückliegenden Wahl wuchs die Zahl der Abgeordneten auf 736 an – ein Rekord. Damit ist der Bundestag eines der größten Parlamente weltweit. Um genügend Büroraum für alle Abgeordneten zu haben, war ein Erweiterungsbau im Regierungsviertel nötig.
Angesichts dieser Entwicklung stieg der politische Druck, das Wahlsystem zu reformieren. Bisherige Versuche verfehlten das Ziel, das Parlament zu verkleinern. Die Regelgröße des Bundestags sieht eigentlich vor, dass das Parlament aus 598 Abgeordneten besteht. Der Entwurf der Ampel-Fraktionen zielt darauf ab, sich dieser Zielgröße anzunähern.
Was wollen die Ampel-Parteien ändern?
Die Zahl der Abgeordneten soll künftig bei 630 festgeschrieben sein. Und zwar als feste Größe. Das heißt: Überhangmandate wird es nicht mehr geben. Und damit auch keine Ausgleichsmandate.
Was ebenfalls wegfallen soll: die Grundmandatsklausel. Die Idee der Ampelparteien dahinter: Das Prinzip der Verhältniswahl soll gestärkt werden. Das bedeutet, dass man den Zweitstimmen noch mehr Gewicht geben will. Da sich die Grundmandatsklausel aber auf Erststimmenergebnisse bezieht, könnte sie im neuen System rechtlich als Fremdkörper eingestuft werden, so die Befürchtung der Ampelparteien.
Neu ist auch, dass künftig nicht mehr jeder direkt gewählte Abgeordnete automatisch in den Bundestag einziehen soll. Wenn die so genannte Zweitstimmendeckung greift, bekommen diejenigen direkt gewählten Abgeordneten mit dem schwächsten Ergebnis in ihrem Bundesland unter Umständen keinen Sitz im Parlament. Weil künftig nur mehr höchstens so viele direkt gewählte Abgeordnete des Bundeslands im Bundestag sitzen dürfen, wie ihre Partei nach dem Zweitstimmenergebnis ins Parlament entsenden kann.
Problem dabei: Es könnten Wahlkreise entstehen, die keinen direkt gewählten Abgeordneten haben; andererseits könnten unterlegene Direktkandidaten über die Parteilisten in den Bundestag kommen, die Wahlkreise wären also nicht völlig verwaist. Bei der Wahl 2021 hätte es nach dem Entwurf der Ampelkoalition 24 solcher Wahlkreise gegeben. Ganz ohne Vertretung wären drei geblieben.
Welche Parteien wären von der Reform besonders betroffen?
Besonders betroffen wären die Linke und die CSU.
Die Linke profitiert aktuell von der Grundmandatsklausel. Die Partei gewann bei der Bundestagswahl 2021 drei Direktmandate und 4,9 Prozent der gültigen Zweitstimmen. Für die Zweitstimmen bekam sie weitere 36 Sitze zugeteilt. Durch die Reform sollen künftig nur noch Parteien an der Mandatsverteilung teilnehmen, die mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erhalten haben oder eine nationale Minderheit vertreten (aktuell: der SSW, der mit einem Abgeordneten im Bundestag sitzt). Fällt die Grundmandatsklausel und scheitert die Linke bei der kommenden Bundestagswahl an der fünf-Prozent-Hürde, könnte sie künftig selbst dann keine Abgeordneten in den Bundestag entsenden, wenn sie mindestens drei Direktmandate geholt hätte.
Die CSU profitiert aktuell von einem starken Direktwahlergebnis. Sie gewann bei der letzten Bundestagswahl 45 der 46 bayerischen Wahlkreismandate. Mehr als ihr Zweitstimmen-Ergebnis von bundesweit 5,2 Prozent hergab. Als Folge gab es für die CSU elf Überhangmandate, von denen wiederum acht ausgeglichen wurden – ein Ergebnis der letzten Wahlrechtsreform von Union und SPD aus dem Jahr 2020. Diese acht Überhangmandate hatten 127 Ausgleichsmandate für die anderen Parteien zur Folge.
2021 kam die CSU bundesweit auf 5,2 Prozent, da sie nur in Bayern antritt. Wäre sie unter die Fünf-Prozent-Hürde gerutscht, hätte sie nach dem neuen Modell keines der 45 errungenen Direktmandate bekommen. Sie wäre im Bundestag nicht vertreten.
Grafik der Wahlkreise ohne Direktmandat nach den Plänen der Ampel
Welche Kritik gibt es an den Plänen?
Eine "Attacke auf die Demokratie" nennt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die geplante Reform. Er sieht die Existenz seiner Partei infrage gestellt. Linksfraktionschef Dietmar Bartsch wählt ähnlich scharfe Worte: Es handele sich um einen "Anschlag auf die Demokratie". Vor allem in Ostdeutschland und Bayern würde der Wählerwille missachtet.
Kritik kommt auch aus der Wissenschaft. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, spricht von einer "groben Missachtung zweier Parteien" – und meint damit CSU und Linke. Aus Sicht von Münch muss das Wahlsystem die politischen Traditionen eines Landes widerspiegeln. Folglich seien in Deutschland auch föderale Aspekte zu berücksichtigen – und die Tatsache, dass mit der CSU eine regional verankerte Partei seit Jahrzehnten im Bundestag vertreten ist.

Auf dem Bild ist der leere Bundestag zu sehen.
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