Geht Seehofer mit seinem Gesetzentwurf über die Vereinbarungen des Koalitionsvertrags hinaus?
In zwei Punkten sieht der Gesetzentwurf des neuen Bundesinnenministers tatsächlich weitergehende Regelungen vor, als sie im Koalitionsvertrag vereinbart wurden.
- Zum einen müssen laut dem Gesetzentwurf, der dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt, Eheleute schon im Heimatland geheiratet haben, um zum Ehepartner nach Deutschland nachreisen zu dürfen. Der Koalitionsvertrag sieht lediglich vor, dass die Ehe vor der Flucht bestanden haben muss.
- Zum anderen will Seehofer nicht nur sogenannten Gefährdern den Familiennachzug verweigern, wie es im Koalitionsvertrag steht, sondern auch sogenannten Hasspredigern, Dschihad-Rückkehrern und den Leitern verbotener Vereine. Wie viele Menschen das konkret betrifft, ist allerdings unklar.
Verfolgt Seehofer damit eine Strategie?
Ja. Diese Strategie hat er vor knapp zwei Wochen angekündigt - bei seiner ersten Rede als Bundesinnenminister im Bundestag. Seehofer sprach von "Null Toleranz" gegenüber jenen, die Gesetze brechen oder gegen Regeln verstoßen. Er wolle einen "Masterplan" zur Flüchtlingspolitik vorlegen. Und er kündigte an, "Tempo" zu machen. Mit dem Gesetzentwurf zum Familiennachzug konkretisiert er die eher allgemeinen Aussagen seiner Bundestagsrede. "Null Toleranz" soll es demnach - wie oben beschrieben - gegenüber sogenannten Hasspredigern und Vorsitzenden von verbotenen Vereinen geben. Sie sollen künftig, genau wie Gefährder, vom Familiennachzug ausgeschlossen sein.
Und mit einem Auge schaut Seehofer natürlich auch schon in Richtung Landtagswahl in Bayern. Sie findet am 14. Oktober statt. Die CSU hat zwei Ziele: Sie will die absolute Mehrheit in Bayern verteidigen und sie will die AfD am Einzug in den Landtag hindern. Die jüngsten Umfragen sehen die CSU aktuell bei 42 Prozent der Wählerstimmen - Tendenz steigend, und die AfD bei 10 Prozent - Tendenz fallend. Seehofer ist nicht nur Bundesinnenminister, sondern auch CSU-Chef. Mit einer restriktiven Flüchtlingspolitik will er der AfD möglichst wenig Angriffspunkte bieten.
Warum kritisiert die SPD als Koalitionspartner den Gesetzentwurf?
In ihrem Bundestags-Wahlprogramm hatte die SPD versprochen, den Familiennachzug für Asylberechtigte mit eingeschränktem Schutzstatus wieder zu ermöglichen. Die Union wollte den Familiennachzug dagegen komplett für die betreffende Personengruppe abschaffen. Entsprechend hitzig wurde das Thema bei den Koalitionsverhandlungen diskutiert. Zwischenzeitlich drohten die Verhandlungen sogar an diesem Punkt zu scheitern. Mit dem Kompromiss, 1.000 Personen im Monat den Nachzug zu ihren Angehörigen in Deutschland zu ermöglichen, ist die SPD der Union aus eigener Perspektive stark entgegengekommen. Die Partei ist nicht bereit, weitere Zugeständnisse bei diesem Thema zu machen. Deshalb fühlt sich nun wohl mancher Sozialdemokrat provoziert dadurch, dass Seehofers Gesetzentwurf nicht Eins zu Eins den Koalitionsvertrag umsetzt.
Nach welchen Kriterien soll Familiennachzug gewährt werden?
Laut Gesetzentwurf dürfen nur "Ehepartner, Eltern minderjähriger Ausländer und minderjährige ledige Ausländer" zu ihren Angehörigen nach Deutschland kommen, wenn diese den eingeschränkten Schutzstatus haben. "Sonstige Familienangehörige, einschließlich Geschwister, fallen nicht unter den Anwendungsbereich der Neuregelung", heißt es weiter. Geschwister zählten auch bislang nicht zur sogenannten "Kernfamilie", die nachreisen darf.
Als "relevante Aspekte", wann eine Person zu einem Angehörigen nach Deutschland kommen darf, werden im Gesetzentwurf mehrere Kriterien genannt - zusätzlich zu den bereits genannten Ausschlusskriterien:
- Das Kindeswohl soll bei der Prüfung des Antrags "von besonderer Relevanz" sein. Dies gelte umso mehr, je jünger ein Kind sei.
- Die Dauer der Trennung soll berücksichtigt werden.
- Ebenso die konkrete Gefahr für Leib und Leben.
- Krankheit oder gesundheitliche Einschränkungen sowie die Unterbringungs- und Betreuungssituation sollen eine Rolle spielen.
- Geprüft werden soll, ob die Familie absichtlich getrennt wurde. Soll die Lebensgemeinschaft in Deutschland nicht fortgesetzt werden, würde der Familiennachzug verwehrt.
- Auch die Frage, wie sehr der in Deutschland lebende Angehörige integriert ist, wird berücksichtigt: Insbesondere wird die Sicherung des Lebensunterhalts genannt, Wohnraum auch für den nachziehenden Familienangehörigen, ehrenamtliche Tätigkeiten und gesellschaftliches Engagement sowie eine Erwerbstätigkeit oder eine Ausbildung.
- Nicht zuletzt sollen auch die Deutschkenntnisse beim nachziehenden Familienangehörigen eine Rolle spielen.
Die deutschen Botschaften und Auslandsvertretungen entscheiden darüber, welche Personen zu ihren Angehörigen nach Deutschland nachreisen dürfen. Bevor ein Visum erteilt wird, muss laut Gesetzentwurf die zuständige Ausländerbehörde am vorgesehenen Wohnort in Deutschland zustimmen.
Wann werden die Pläne umgesetzt?
Derzeit befindet sich der Gesetzentwurf in der Ressortabstimmung, das heißt: Die verschiedenen Bundesministerien prüfen und bewerten ihn. Dabei kann es noch zu Änderungen kommen. Anschließend wird der Entwurf im Kabinett beraten und dann im Bundestag eingebracht. Am 1. August soll er in Kraft treten. Am Tag zuvor läuft die bestehende Regelung aus, wonach Asylberechtigte mit subsidiärem Schutz ihre Angehörigen nicht nachholen können.