Am vergangenen Dienstag feierte das Bundesverfassungsgericht sein 70-jähriges Bestehen als Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland. Zwei Tage vor dem Jubiläum äußerte sich die AfD-Co-Vorsitzende Alice Weidel in der Wahlsendung der ARD am Sonntagabend in einem anderen Kontext über das Gericht.
Nach der 18-Uhr-Prognose interviewte Moderator Ingo Zamperoni die AfD-Politikerin. Als Weidel sagte, sie halte die Corona-Maßnahmen für verfassungswidrig, kommentierte Zamperoni, dass alle derartigen Anträge der Partei vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt wurden. Daraufhin sagte Alice Weidel: "Klar, natürlich Karlsruhe, die gehen dann im Kanzleramt zu Abend essen und dementsprechend haben wir da vielleicht auch eine gewisse Abhängigkeit."
Abendessen im Kanzleramt: Weidel stellt Unabhängigkeit des obersten Gerichts infrage
Das Abendessen, das Weidel erwähnt, hat am 30. Juni 2021 stattgefunden, wie das Bundesverfassungsgericht in einer Pressemitteilung am Tag nach dem Treffen vermeldete. Eine Delegation des Gerichts, darunter Präsident Stephan Harbarth und Vizepräsidentin Doris König, war zum Abendessen in das Bundeskanzleramt eingeladen.
Weidel sieht dieses Treffen offensichtlich als Indiz für eine "gewisse Abhängigkeit" des obersten Gerichts von der Regierung. Aufgrund des Treffens legte die AfD bereits im Juli einen Ablehnungsantrag wegen Befangenheit gegen einige Richterinnen und Richter des Gerichts ein. Der Hintergrund: Die AfD ist in zwei Verfahren gegen die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin vor das Bundesverfassungsgericht gezogen - und sieht im Hinblick darauf die Richterinnen und Richter als befangen an.
Verfassungsrechtler: Austausch zwischen Verfassungsorganen normal und sinnvoll
Die Gewaltenteilung in Deutschland ist in Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes festgeschrieben. "Eine Gewaltenteilung führt aber nicht zu einem grundsätzlichen Kontaktverbot", sagt Alexander Thiele, Professor und Dozent am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie der Ludwig-Maximilians-Universität München. So ein Abendessen sei ein "völlig normaler Vorgang" und auch sinnvoll, da sich Verfassungsorgane austauschen sollten.
Zu dieser Einschätzung kommen alle vom #Faktenfuchs befragten Experten. Dass es so einen formellen Austausch gebe, "gehöre sich so", sagt Thorsten Kingreen, Verfassungsrechtler von der Universität Regensburg. Andreas Fisahn, Professor für Öffentliches Recht von der Universität Bielefeld sagt: "Solche Treffen sind normal und führen auch nicht dazu, dass Richter nicht mehr unabhängig sind."
"Austausch der Institutionen hat lange Tradition"
Die Verfassungsrechtler teilen damit die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts: Das hatte den Befangenheitsantrag der AfD Ende Juli abgewiesen. In der Begründung wird auf den "Dialog der Staatsorgane" verwiesen. Der "Gedanken- und Erfahrungsaustausch" sei Ausdruck des gegenseitigen Respekts der Institutionen und habe eine lange Tradition.
Das Gericht verweist auch auf die regelmäßigen Treffen von Richtern mit dem Bundespräsidenten sowie Mitgliedern des Bundestags. "Die Treffen im Rahmen dieses Dialogs oberster Verfassungsorgane sind gänzlich ungeeignet, Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts zu begründen", heißt es in der Begründung des Gerichts.
Streit um Impulsvortrag von Bundesjustizministerin Lambrecht
Dass das Abendessen für Vorwürfe von Einflussnahme oder Abhängigkeit sorgt, liegt auch an einem Impulsvortrag, den die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) im Rahmen des Treffens hielt. Das recherchierte die Zeitung "Die Welt" und stellte das Manuskript des Vortrags zur Verfügung. In dem Vortrag unter der Überschrift "Entscheidung unter Unsicherheiten" redet Lambrecht laut Manuskript auch über das Vorgehen der Regierung während der Corona-Pandemie.
Die "Welt" zitiert den Staatsrechtler Kyrill-Alexander Schwarz von der Universität Würzburg damit, dass sich der Vortrag wie eine "Handlungsempfehlung der Exekutive an das Bundesverfassungsgericht" lese und es sich dabei um einen "Versuch einer Einflussnahme der Politik auf das Gericht" handele.
Laut Darstellung der Zeitung sei der Vortrag ein Versuch, Einfluss auf die noch ausstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur "Bundesnotbremse" zu nehmen. Laut "Welt" weist das Bundesjustizministerium diese Einschätzung zurück.
Experten erkennen keinen Versuch der Einflussnahme
Die vom #Faktenfuchs befragten Verfassungsrechtler teilen diese Einschätzung nicht. Staatsrechtler Alexander Thiele hat das Manuskript des Vortrags gelesen und sagt: "Der Vortrag ist völlig allgemein gehalten, versucht an keiner Stelle Einfluss zu nehmen, referiert inhaltlich eher Allgemeinplätze und nimmt zum generellen Problem von Entscheidungen unter Unsicherheit Stellung."
Dabei handele es sich um "die vorsichtige Erläuterung politischer Rationalitäten und Entscheidungsverfahren - ohne daraus in irgendeiner Form etwas vom Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf konkrete Urteile zu erwarten. Das wird von Frau Lambrecht ja auch mehrfach ausdrücklich betont." Es würden weder konkrete Regelungen noch konkrete Erwägungen ausgeführt, "die sich in weit ausführlicherer Form nicht auch in den relevanten Schriftsätzen fänden", sagt Thiele.
Dieser Ansicht ist auch Andreas Fisahn von der Universität Bielefeld, der das Manuskript ebenfalls gelesen hat. "Über das konkrete Verfahren wurde nicht gesprochen. Da ist nicht mal ein Ansatz zu finden, die konkrete Entscheidung zu beeinflussen."
Kritik an Themenwahl des Vortrags
Thorsten Kingreen, Verfassungsrechtler der Uni Regensburg, ist Beschwerdeführer für die FDP in den Verfahren gegen die Corona-Maßnahmen. Er äußert eine "feine Kritik" an der Themenwahl für den Abend, und fände es besser, wenn es auch nicht nur mittelbar um Angelegenheiten gegangen wäre, die auf der Agenda des Gerichts stehen. "Das ist eine Frage der Sensibilität." Dennoch würde er keineswegs eine Einflussnahme unterstellen. Das Abendessen würde nicht dazu führen, dass Richter befangen sind, sagt Kingreen.
Nach der AfD hat ein Berliner Anwalt nun einen neuen, zweiten Befangenheitsantrag gegen den Präsident des Verfassungsgerichts Stephan Harbarth und eine weitere Richterin gestellt. Das Gericht werde im Herbst über die anhängigen Verfahren zur Corona-Politik entscheiden, wie Harbarth in der ARD-Dokumentation "Da geh ich bis nach Karlsruhe" anlässlich des 70. Jubiläums des Gerichts sagte.
Über Harbarth, der sich im Rahmen des Abendessens mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem "Vorgespräch" getroffen haben soll, wird in dem Artikel der "Welt" ebenfalls kritisch berichtet. In einem Zitat wird er als "Parteisoldat" bezeichnet.
Ehemalige Politiker und Parteimitglieder im Richteramt
Korrekt ist: Harbarth ist Mitglied der CDU und war von 2009 bis 2018 Mitglied des Deutschen Bundestags. Seit Juni 2020 ist er Präsident des Bundesverfassungsgerichts, seit 2018 steht er dem Ersten Senat des Gerichts vor.
Insgesamt besteht das Bundesverfassungsgericht aus 16 Richterinnen und Richtern, aufgeteilt in zwei Senate mit jeweils acht Richtern. Jeder Senat urteilt als "das Bundesverfassungsgericht". Die eine Hälfte der Verfassungsrichter wird vom Bundestag, die andere vom Bundesrat gewählt - jeweils mit Zweidrittelmehrheit. Es braucht also konsensfähige Kandidaten und solche mit einem gewissen politischen Netzwerk - vor allem zu SPD und CDU.
Bei einigen Verfassungsrichtern finden sich dementsprechend Lebensläufe mit politischer Färbung oder Vergangenheit. Peter Müller, Richter des Zweiten Senats, war zwölf Jahre lang Ministerpräsident des Saarlands und ist Mitglied der CDU. Peter Huber, ebenfalls im Zweiten Senat, war ein Jahr lang Innenminister von Thüringen, ist Mitglied der CSU.
Bundesverfassungsgericht trifft "keine einseitigen Entscheidungen"
Sind solche politischen Vergangenheiten problematisch für einen Verfassungsrichter, beeinflussen sie Entscheidungen? Thomas Gschwend, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Mannheim, hat sich in zahlreichen Studien dem Bundesverfassungsgericht gewidmet und auch konkret untersucht, ob die Parteinähe der Richter einen Einfluss auf das Abstimmungsverhalten hat. Im Gespräch mit dem #Faktenfuchs sagt er: "Das Bundesverfassungsgericht trifft de facto keine einseitigen Entscheidungen."
Tatsächlich gebe es sehr viele einstimmige Entscheidungen. Die Senate des Verfassungsgerichts können Entscheidungen entweder einstimmig in einer Kammer mit drei Richtern oder - wenn in der Kammer keine Einstimmigkeit herrscht - mit einfacher Mehrheit im Senat fällen.
Innerhalb eines Senats gebe es viele unterschiedliche Strömungen, jede Richterin und jeder Richter habe seine eigene Vorgeschichte, sagt Staatsrechtler Thiele. "Sterile Richter gibt es nicht." Einzelne Meinungen hätten jedoch im Senat kein Gewicht, es zählten lediglich "normative, juristische Argumente".
Politische Erfahrung kann bei Entscheidungen hilfreich sein
Dass ehemalige Politiker zu Verfassungsrichtern werden, kann auch sinnvoll sein, betont Alexander Thiele von der LMU. Natürlich sei auch eine gewisse Skepsis angebracht, aber politische Erfahrung sei Expertise, die das Gericht brauche. "Wenn Sie politische Erfahrung nicht haben, müssen Sie jemanden fragen." Das könne zu informellen und problematischen Kontakten in die Politik führen.
Thiele verweist außerdem auf das große Selbstbewusstsein und Selbstverständnis, das die Verfassungsrichter aus ihrem Amt beziehen. "Richter haben starke Unabhängigkeit und kein Motiv, sich der Politik zu unterwerfen. Das entspricht dem Amtsverständnis." Würde die Regierung Anweisungen geben "würde sie sich die Finger verbrennen".
Thorsten Kingreen sagt: Das Gericht sei immer "sehr unzuverlässig gewesen - im positiven Sinne": Die Richterinnen und Richter werden nämlich zwar von Parteien vorgeschlagen, aber ihre Entscheidungen folgen nicht parteipolitischen Linien. Dass die Richter einmalig für zwölf Jahre gewählt werden und nicht zur Wiederwahl stehen, sei ein sehr gutes System und garantiere "enorme Unabhängigkeit"
Gegenseitige Kontrolle der Richter
Das sehen auch der Verfassungsrechtler Andreas Fisahn und der Politikwissenschaftler Thomas Gschwend so. Gschwend sagt: "Das Gericht ist nicht abhängig von der Regierung. Dazu fährt es ihr viel zu häufig in die Parade." Ein Beispiel ist das Urteil zum Klimaschutzgesetz der Bundesregierung, als das Gericht im Frühjahr dieses Jahr urteilte, das Gesetz reiche nicht weit genug.
Andreas Fisahn betont auch, dass sich die Verfassungsrichter in gewisser Weise selbst kontrollieren. Würde einer den Anschein erwecken, in einer Sache nicht normativ zu entscheiden, wäre er oder sie in der Runde der Richter außen vor. Diese gegenseitige Kontrolle sei auch in einem Rahmen wie dem Abendessen mit der Bundesregierung sehr stark. Fisahn glaubt, kein Richter würde in so einem Rahmen über ein konkretes Verfahren sprechen und sich womöglich vor der Kollegen diskreditieren.
Narrativ der AfD bekannt von autokratischen Parteien
Dass Alice Weidel die Unabhängigkeit des Gerichts infrage gestellt hat, hält Alexander Thiele für "abwegig und gefährlich", da mit der Legitimität einer Institution gespielt würde, die vom Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger lebt.
Dass die AfD Misstrauen an dieser Institution säht, überrascht Thorsten Kingreen nicht. "Es ist ein sehr typisches Verhalten der AfD", sagt er zur Aussage von Weidel. Dieses Narrativ und den Versuch, Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates zu diskreditieren, beobachte man sonst häufig bei Autokraten, etwa in Polen oder Ungarn - also Ländern, in denen die unabhängige Justiz untergraben werden soll.
Dieses Vertrauen ist in Deutschland indes sehr hoch. Laut einer Studie von infratest dimap im Auftrag des WDR ist das Bundesverfassungsgericht die Institution in Deutschland, die das zweithöchste Vertrauen in der Bevölkerung genießt - nach der Polizei.
Fazit
Alle vom #Faktenfuchs befragten Experten halten das Bundesverfassungsgericht für unabhängig und eine Einflussnahme der Regierung auf Entscheidungen des Obersten Gerichts für ausgeschlossen. Das Abendessen der Gerichtsdelegation im Bundeskanzleramt bewerten die befragten Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler als normalen Vorgang, von dem sich keine Einflussnahme oder Abhängigkeit ableiten lasse.
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