Stand auf einer Jobmesse (Symbolbild)
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Fachkräftemangel bekämpfen: Abiturienten in Ausbildung schicken?

Betriebe suchen Auszubildende, gleichzeitig hält der Studien-Trend an. Zwar betonen Politiker, Ausbildung und Studium seien gleichwertig – beim Image sieht es jedoch anders aus. Sollten Personaler an Gymnasien mehr für Ausbildungen werben?

Es ist eine provokante Formulierung, das weiß das Handwerk selbst: "Was gegen Handwerk spricht? Meine Akademikereltern", stand Ende August bundesweit auf Werbeplakaten für eine Kampagne des Handwerks. Denn immer wieder fehlt Wertschätzung für eine berufliche Ausbildung – auch, wenn die Bundesbildungsministerin ruft: "Eine Ausbildung steht einem Studium als Karrierestart in nichts nach."

Automatismus Abitur und Studium stoppen?

In Zeiten fehlenden Personals ist ein schlechtes Image fatal. Offene Stellen, keine neuen Auszubildenden, lange Wartezeiten für Kunden – alles keine Seltenheit. Derweil strömen jährlich zahlreiche Kinder auf die Gymnasien und entscheiden sich nach dem Abitur meistens für ein Studium. Liegt in diesem - überspitzt gesagt - Automatismus ein zusätzlicher Ansatzpunkt im Kampf gegen den Fachkräftemangel?

Grafik: Ausbildungs- und Studienanfänger im Zeitverlauf

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Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge und Studienanfänger im 1. Hochschulsemester (von 2007 bis 2020 andere Ausbildungsdefinition)

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Angebote zur Berufsorientierung an bayerischen Gymnasien

Der Ausbau der Berufsorientierung an Schulen steht jedenfalls schon länger auf der Tagesordnung der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die Berufsberatung sei in den vergangenen Jahren noch einmal intensiviert worden, heißt es auf Anfrage von BR24. Informationsabende, Besuche im Berufsinformationszentrum, Stände auf Messen, digitale Angebote: Die BA präsentiert eine breite Palette.

An Bayerns Gymnasien wird die Berufsorientierung in den Jahrgangsstufen 9, 11 sowie 12 und 13 besonders hervorgehoben. Während es in der jüngsten Stufe viel um die eigene Persönlichkeit und Lebensvorstellung geht, wird im "Projektseminar" der Klasse 11 auch ein externer Partner hinzugeholt. Ältere Schüler werden nochmal individueller beraten.

Qualität und Hilfen "sehr unterschiedlich"

Doch weg vom Papier zeigt sich: Es gibt von Schule zu Schule Unterschiede - auch in der Qualität der Berufsorientierung. "Wenn ich als Geschichtslehrer etwas über Berufsorientierung vermittle, dann bin ich dafür so kompetent wie mein Nachbar auch", erklärt Fritz Schäffer, Lehrer am Christoph-Scheiner-Gymnasium in Ingolstadt, am Telefon. Manche Lehrkräfte könnten durch ihr bisheriges Leben oder das familiäre Umfeld mehr berufliche Einblicke gewonnen haben, aber: "Das ist sehr unterschiedlich und sehr zufällig."

Zur Vorbereitung auf die "Projektseminare" gebe es Hilfsmaterialien, ganz zum Erfolg würden diese aber auch nicht verhelfen. "Ich selber hatte das Gefühl, dass das nicht die Qualität erreicht hat, die ich sonst glaube, die mein Unterricht erreicht." Das spiegelten offenbar auch die Teilnehmenden: "Die Rückmeldung von Schülern, die ich befragt habe, ist, dass es in der Regel nicht als allzu hilfreich empfunden wurde", sagt Schäffer. Koordinatoren der beruflichen Orientierung sollen die Prozesse an Gymnasien nun professionalisieren.

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Landesschülerrat: "Fokus auf der Vorbereitung für Studium"

Schüler lobten derweil die Angebote der Bundesagentur für Arbeit und die Betriebspraktika. "Der Fokus in der gymnasialen Ausbildung liegt klar auf der Vorbereitung für ein Studium", merkt der Landesschülerrat in Bayern darüber hinaus auf BR24-Anfrage an. Zwar werde versucht, auf beide Arten der Weiterbildung aufmerksam zu machen. "Jedoch funktioniert dies nur teilweise gut, Ausbildungen werden klar weniger thematisiert. Ein Änderungsbedarf ist hier definitiv zu sehen", findet Vertreterin Giuliana Stoll.

Außerdem stimmt sie dem Eindruck zu, dass gesellschaftlich nach dem Abitur eher ein Studium verlangt werde - unter dem Stichwort "Studiere lieber". "Viele Schüler:innen sehen es als einziges Ziel an, weshalb man ein Abitur erwerben sollte. Als Problem kann man dies nicht direkt sehen, aber man sollte sich definitiv von dieser veralteten Denkweise lösen."

Anspruch: Neutrale und individuelle Beratung

Die Arbeitsagentur stellt den Wunsch nach Neutralität heraus: "Die BA berät vollkommen neutral anhand der individuellen Stärken und Interessen der Jugendlichen." Schließlich seien Studium, Ausbildung und auch ein duales Studium sehr gute Einstiege ins Berufsleben.

Auch das bayerische Kultusministerium spricht sich für eine "ergebnisoffene, talent- und interessenorientierte" berufliche Beratung aus. Die Schüler sollten möglichst breit über das Angebot von Ausbildungsmöglichkeiten und Studiengängen informiert werden - mit dem Zusatz: Im Interesse der Schüler soll die Orientierung "nicht einseitig der Behebung des Fachkräftemangels in nichtakademischen Berufsfeldern dienen".

Das Bundesbildungsministerium will Gymnasiasten stärker in die Berufsorientierung einbeziehen und "die Sichtbarkeit und Erlebbarkeit der beruflichen Bildung, gerade an Gymnasien, noch verstärken". Es weist aber auch darauf hin, dass insgesamt die Zahl der Abiturienten im Berufsbildungssystem in den vergangenen Jahren gestiegen sei.

Nicht jeder studiert nach dem Abitur, aber viele

In eine Richtung zeigen mit ihren Plänen alle: Schüler sollen die Kompetenz vermittelt bekommen, für sich den passenden Beruf finden zu können. Denn Gymnasiasten, für die ein Studium oder das Abitur nichts ist, gibt es schon immer. Häufig spielen dann äußere Faktoren eine Rolle: In der Familie arbeitet jemand im Handwerk, oder ein Schüler möchte erst einmal Praxis-Erfahrung sammeln.

Nicht jeder, der eine Abiturprüfung ablegt, ist automatisch auf dem Studienweg festgenagelt. Mit einer modernen Ausbildung gibt es eine Perspektive - das müsse man deutlich machen, erklärt der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber von der Universität Regensburg im BR24-Gespräch. Er sagt aber auch: "Laut unseren Projektionen werden wir in Zukunft noch mehr Akademiker brauchen", zum Beispiel durch die Digitalisierung. Eine "Überakademisierung", nach dem Motto, Deutschland hätte überzogen, sieht er daher nicht. Vielmehr wünscht er sich von beidem mehr: mehr Studierende, mehr Auszubildende.

"Nicht Aufgabe der Schule, für eine Seite zu werben"

"Ich sehe es nicht als Aufgabe der Schule an, für die eine oder andere Seite besonders vorzubereiten oder zu werben." Doch Orientierung an der Schule sei total wichtig. Das Abitur jetzt aber zu ändern, würde an der Sache vorbei gehen.

Dafür gebe es andere Schulformen, deren Aufgabe es nicht unmittelbar sei, für den Hochschulweg vorzubereiten. Mit einer Gymnasialausbildung, die auf etwas Breiteres abzielen würde, "können wir die beiden anderen Schulen gleich abschaffen, dann haben wir die Einheitsausbildung", meint Forschungsbereichsleiter Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

Ansehen des Handwerks erhöhen

Zur aktuellen Situation sagt Gymnasiallehrer Schäffer noch diesen Satz: "Es ist nicht sehr realistisch, dass jemand, der Abitur hat, Bäcker oder Maurer wird." Vielleicht wegen äußerer Faktoren, aber jemandem mit Abitur stünden ganz andere Berufswege offen. Entscheidend sei vielmehr, am Ansehen der Ausbildung und am Gehalt sowie der Flexibilität der entsprechenden Berufe etwas zu ändern.

Das werde auch passieren, meint Forscher Weber - bei den Löhnen, den Arbeitsbedingungen und der Ausbildung. Die Ampelkoalition hat einen solchen Weg zumindest eingeschlagen. Da es wohl auch in Zukunft weniger Schulabgänger geben wird, scheint dies notwendig.

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