Ukraine, Jampil: Ein zerstörtes russisches Militärfahrzeug steht in der Nähe des kürzlich zurückeroberten Dorfes Jampil.
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Ukraine, Jampil: Ein zerstörtes russisches Militärfahrzeug steht in der Nähe des kürzlich zurückeroberten Dorfes Jampil.

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Russischer Rückzug aus Cherson – Zäsur im Ukraine-Krieg?

Das russische Verteidigungsministerium hat den Abzug aller Streitkräfte von der westlichen Seite des Dnipro gemeldet. Es ist der dritte große Rückzug seit Beginn des Angriffskrieges in der Ukraine. Was bedeutet das? Welche Optionen gibt es jetzt?

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Nach den Rückzügen vor Kiew im März und in der nordöstlichen Region bei Charkiw im September ist die Aufgabe Chersons das dritte, einschneidende Zurückweichen Russlands. Erneut wurde es militärisch von der ukrainischen Armee erzwungen.

US-Generalstabschef: Gelegenheit für "diplomatische Lösungen"

Dies könnte nach Auffassung des amerikanischen Generalstabschefs Mark Milley die Gelegenheit bieten, "diplomatische Lösungen" zu erwägen. "Was wir sehen können ist, dass das ukrainische Militär die russischen Streitkräfte zum Stillstand bringt", sagte Milley am Donnerstag gegenüber dem US-Sender CNBC.

Zwar könne niemand mit irgendeiner Gewissheit sagen, wie der weitere Kriegsverlauf sein werde. "Aber wir glauben, dass es hier einige Möglichkeiten für ein paar diplomatische Lösungen gibt." Milley zog angesichts der gegenwärtigen militärischen Lage im Osten der Ukraine einen historischen Vergleich zum Ersten Weltkrieg.

Damals seien frühzeitig Gespräche über Friedensverhandlungen zurückgewiesen worden, erklärte der US-Generalstabschef in einer Rede vor dem "Economic Club" in New York. Das Ergebnis: Weiteres menschliches Leid und weitere Millionen Opfer. "Wenn es also eine Gelegenheit für Verhandlungen gibt, wenn Frieden erreicht werden kann, sollte man den Moment nutzen", so Milley.

Ist jetzt der richtige Zeitpunkt?

Nach dem Rückzug der russischen Streitkräfte vom westlichen Ufer des Dnipro dürfte es nach Einschätzung Milleys während der kommenden Wintermonate keine wesentlichen Veränderungen entlang der Frontlinien mehr geben. Die Ukraine habe auf dem Schlachtfeld so viel vor dem Winter erreicht, wie man realistischerweise nur habe erwarten können.

Daher könnte sie ihre Geländegewinne an einem Verhandlungstisch "zementieren", wie die "New York Times" unter Berufung auf eigene Quellen Milleys Einlassungen in vertraulichen Gesprächsrunden wiedergibt. Das stellt die US-Regierung und ihre Verbündeten vor ein Dilemma: Wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um der Ukraine zu signalisieren, die "Gelegenheit" zu ergreifen? Ein ausgesprochen heikles Thema, denn bislang gilt das Motto der westlichen Unterstützerstaaten: Das ist ausschließlich eine Entscheidung der Ukraine.

"Die Vereinigten Staaten üben keinen Druck auf die Ukraine aus", stellte der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, gestern nochmals klar. Zusammen mit den Partnerstaaten berate sich Washington und zeige seine Unterstützung nicht allein durch politische Statements, sondern durch korrekte militärische Hilfe.

Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekräftigte gestern erneut, die Allianz werde die Ukraine "solange es auch dauern wird" unterstützen. Die "beispiellose Unterstützung" durch die Nato-Mitglieder mache auf dem Schlachtfeld jeden Tag einen Unterschied und bleibe entscheidend für die "ukrainischen Fortschritte".

Taktischer Rückzug?

Noch Ende September habe Russlands Präsident Vladimir Putin das abgelehnt, was jetzt vom russischen Verteidigungsministerium gemeldet wird: den kompletten Abzug der russischen Einheiten aus Cherson und den Rückzug auf das östliche Ufer des Dnipro. Dies hatte die "New York Times" am 23. September unter Berufung auf amerikanische Regierungskreise gemeldet.

Putins Kommandeure hätten vor Wochen schon den Rückzug gefordert, um Soldaten, Waffen und Material zu retten. Putin sei bereit, taktische Zugeständnisse zu machen, wenn er gegen die Wand gedrängt werde, analysiert die russische Politologin Tatiana Stanovaya gegenüber dem "Guardian". Es wäre falsch zu behaupten, dass Putin niemals zurückweichen würde. Der Abzug aus Cherson zeige vielmehr, "dass Putin pragmatisch" sein könne.

  • Zum Artikel: "Russland nach Rückzug in Schockstarre - 'War alles umsonst?'"

Spielt Putin auf Zeit?

Der russische Präsident sei an einen Punkt gekommen, an dem er nicht mehr länger die Warnungen seines neuen Befehlshabers in den besetzten Gebieten in der Ukraine, Sergey Surovikin, habe ignorieren können. Das stelle eine deutliche Kehrtwende Putins dar. Allerdings: Russlands Präsident, der sich öffentlich nicht zu dem Komplettabzug seiner Truppen aus Cherson geäußert hat, setze nunmehr darauf, den Krieg "einzufrieren", wie der "Guardian" eine russische Militärquelle ohne Namensnennung zitiert.

Putin wolle Zeit gewinnen, um die arg dezimierten Einheiten umzugruppieren und die neu eingezogenen Rekruten ausbilden zu lassen. Nach dem Winter werde er die militärische Lage beurteilen und dann seine Strategie anpassen.

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