Von einem "Durchbruch" ist die Rede und einer "historischen" Einigung: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Rishi Sunak haben in der Stadt Windsor bei London einen Kompromiss im Streit um das Nordirland-Protokoll erzielt. Es regelt den Status der britischen Provinz seit dem Brexit vor gut drei Jahren. Sunak sprach von einem neuen Kapitel. Die Einigung sichere die Souveränität Nordirlands. Von der Leyen betonte, der Kompromiss erfülle eine Schlüsselforderung der EU, nämlich keine harte Grenze auf der irischen Insel zu haben. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Was regelt das Nordirland-Protokoll?
Das Nordirland-Protokoll war als Teil des Brexit-Vertrags ausgehandelt worden, der seit Januar 2020 offiziell vollzogen ist. Es regelt den Umgang mit der britischen Provinz vor allem in Zoll- und Grenzfragen nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU. Es sieht vor, dass die Zollgrenze zwischen Großbritannien und der EU in der Irischen See verläuft. Damit soll verhindert werden, dass Grenzkontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland eingeführt werden müssen. Sonst wurde mit einem Wiederaufflammen des Konflikts um eine Vereinigung der beiden Teile Irlands gerechnet.
Nordirland blieb so Teil des EU-Binnenmarkts, musste deshalb aber auch einige EU-Regeln einhalten, obwohl es mit Inkrafttreten des Brexits nicht mehr zur EU gehörte. Die Kontrollen auf See ließen zudem Probleme im innerbritischen Handel entstehen. Das schürte in London und vor allem bei nordirischen Protestanten die Befürchtung, dass die britische Provinz faktisch vom Rest des Vereinigten Königreichs abgetrennt werden könnten. Die Regierung in London wollte den Vertrag deshalb nachverhandeln.
Premier Sunak und von der Leyen einigten sich nun auf das "Rahmenabkommen von Windsor", das die Streitpunkte beilegen soll. In ihrer Pressekonferenz stellten beide Seiten aber unterschiedliche Aspekte des Windsor-Abkommens in den Vordergrund.
Welche Zugeständnisse hat London erreicht?
Sunak handelte in dem neuen Rahmenabkommen Erleichterungen bei der Warenausfuhr von Großbritannien nach Nordirland aus. Geplant ist ein "grüner Korridor" ohne Zollauflagen für Lebensmittel und Medikamente. Güter aus Großbritannien, die nur für den britischen Landesteil auf der Irischen Insel bestimmt sind, werden künftig nicht mehr streng überprüft. Für sie gelten Standards des Vereinigten Königreichs. Anders bei Waren, die für den EU-Mitgliedsstaat Irland bestimmt sind - sie werden in einer "roten Spur" umfassend kontrolliert. Britische Unternehmer können sich einmalig als vertrauenswürdige Händler registrieren lassen und unterliegen danach deutlich weniger Formalitäten. Außerdem soll die britische Regierung die Mehrwertsteuer in Nordirland in Zukunft in den meisten Fällen frei bestimmen können.
Sunak sagte, jegliches Empfinden, wonach es durch den Brexit eine Grenze im Irischen Meer gebe, sei damit ausgeräumt.
Das nordirische Parlament bekommt künftig mehr Mitspracherecht: Es kann auf Antrag von 30 Mitgliedern eine Art Notbremse ziehen und die britische Regierung auffordern, die Anwendung von EU-Regeln zum Warenverkehr, die sie betreffen zu stoppen. Bei Anwendung der Bremse hat die britische Regierung laut Premier Sunak jedoch ein Vetorecht.
Wo hat sich Brüssel durchgesetzt?
In nordirischen Häfen soll der Zoll weiter alle Güter kontrollieren, die für das EU-Mitglied Irland im Süden der Insel bestimmt sind. Zudem will London der EU Daten zum Warenverkehr nach Nordirland in Echtzeit übermitteln. So bleibe der Schutz des Binnenmarkts gewahrt, betonte von der Leyen.
Auch die Kernforderung der EU sieht sie erfüllt: Keine "harte Grenze" zwischen den beiden Teilen Irlands. Die offene Grenze garantiert das fast 25 Jahre alte Friedensabkommen vom Karfreitag 1998, das den rund 30-jährigen Nordirland-Konflikt mit mehr als 3.000 Toten beendete.
Welche Knackpunkte gibt es?
Ein Hauptstreitpunkt war die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Nach dem Kompromiss bleibt er zwar die letzte Instanz bei Zollstreitigkeiten um Nordirland. Er soll aber erst dann angerufen werden, wenn andere Möglichkeiten zur Einigung erschöpft sind.
Die Hardliner in der Tory-Partei des britischen Regierungschefs Sunak hatten gefordert, EU-Gerichte dürften nach dem Brexit gar keine Mitsprache mehr haben.
Welche Unwägbarkeiten hat der Deal?
Regierungschef Sunak hat "zu gegebener Zeit" eine Abstimmung im britischen Parlament angekündigt. Dort könnte ihm allerdings Widerstand von "Brexiteers" drohen. Zu ihnen gehört Ex-Premier Boris Johnson, der damals das Brexit-Abkommen ausgehandelt hatte, danach aber gegen die darin verankerten Regeln für Nordirland Stimmung machte.
In der EU müssen neben dem EU-Parlament auch die Mitgliedstaaten dem Kompromiss zustimmen. Dies gilt aber als deutlich weniger heikel. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament David McAllister (CDU) zeigte sich zufrieden: "Der gefundene Kompromiss ist insgesamt pragmatisch. Er bietet Anlass zur Hoffnung, dass die latente Dauerdebatte nun endlich beigelegt werden kann."
McAllister: Zurückhaltung gegenüber Londons Versprechungen
Auch im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk begrüßte McAllister die Einigung: "Das ist ein guter Schritt nach vorne. Ein großer Erfolg für Kommissionspräsidentin von der Leyen", sagte er. In Brüssel hofften nun alle, dass "wir ein neues Kapitel in unseren Beziehungen" aufschlagen.
Einschränkend fügte McAllister aber hinzu, dass jetzt London die Vereinbarungen jetzt auch umsetzen müsse. "Deshalb bleibt auch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den großmündigen britischen Versprechungen." Es sei jetzt die Aufgabe von Premier Sunak, die Politiker in London und in Nordirland zur Zustimmung zu bewegen - auch und vor allem in seiner eigenen Partei.

David McAllister begrüßt die Einigung - hat aber noch Vorbehalte
Welche Reaktionen gibt es in Nordirland?
Die größte unionistische Partei Democratic Unionist Party (DUP) äußerte sich nach dem Deal allerdings skeptisch. "Kernsorgen" blieben bestehen, erklärte DUP-Chef Jeffrey Donaldson. Die DUP blockiert aus Protest gegen die Regelungen seit Monaten die Bildung einer Regionalregierung in Nordirland. Sie steht nun unter Druck, die politische Blockadehaltung aufzugeben.
Hoffnungsvoll äußerte sich dagegen die Sinn-Fein-Partei, die eine Wiedervereinigung Irlands anstrebt. Sie rief die DUP auf, sich einer neuen Regierung der Einheit in Belfast anzuschließen.
Mit Informationen von dpa und AFP
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