Es ist ein Sonntag, als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zur Regierungserklärung in den Bundestag lädt. Eine absolute Ausnahme. Vielen Abgeordneten steht das Erschrecken über Putins Angriff auf die Ukraine noch im Gesicht. Als der Kanzler ans Pult tritt, ist es so still im Saal, man könnte eine Nadel fallen hören. Alle Augen sind auf ihn gerichtet.
Scholz sagt: "Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen." Der Bundeskanzler erklärt, wo er diese Grenzen ziehen will, und beschwört den Bundestag mitzuhelfen. Scholz bekommt Applaus von fast allen Fraktionen. Ein Jahr später ist klar: Manche Ankündigung wurde sehr schnell umgesetzt, anderes zieht sich zäh hin.
Sanktionen: Schnell eingesetzt – Wirkung noch ungewiss
Sanktionen gegen Putins Regime wurden in Windeseile verhängt. Vermögenswerte von russischen Politikern und Oligarchen wurden beschlagnahmt, Konten eingefroren, russische Banken vom internationalen Bezahlungssystem Swift ausgeschlossen. Kurz vorm Jahrestag des Angriffs verabschiedeten die EU-Staaten das zehnte Sanktionspaket. Es enthält auch Beschränkungen für Dual-Use-Güter, für Bauteile wie Antennen oder Ersatzteile für Lkws die auch militärisch genutzt werden könnten. Umstritten ist die Wirkung dieser Pakete. Der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell zeigt sich überzeugt, dass sich eine Wirkung einstellen wird: "Sanktionen sind ein schleichendes Gift wie Arsen."
Alternative zu russischem Gas: Terminalbau im Hauruckverfahren
Auch beim Plan, unabhängiger von russischem Gas zu werden, drückte die Bundesregierung aufs Tempo. Experten erklärten, es sei langfristig möglich, Flüssiggasterminals aufzubauen, um Russlands Gaslieferungen auszugleichen. Dass diese Terminals schnell entstehen könnten, glaubten dagegen viele nicht.
Es kam anders: In einem Hauruckverfahren wurden Terminals im niedersächsischen Wilhelmshaven, in Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern und in Brunsbüttel in Schleswig-Holstein geplant. Scholz reiste bereits Ende Dezember zur Inbetriebnahme des ersten Terminals in Wilhelmshaven. Im kommenden Dezember sollen die Kapazitäten so weit ausgebaut sein, dass sie zumindest die Hälfte der Nord-Stream-1-Lieferung ausgleichen können.
Waffenlieferungen: Viel Rüstung für die Ukraine
Die ersten Lieferungen kamen zügig in Gang. Bereits Anfang März erhielten die ukrainischen Streitkräfte 1.000 Panzerabwehrwaffen und 500 Boden-Luft-Raketen von der Bundeswehr. Doch die Debatte, welche Art von Waffen geliefert werden darf, ohne dabei eine angenommene rote Linie in Wladimir Putins Kopf zu überschreiten, zieht sich nun bereits ein Jahr.
Ist Bundeskanzler Scholz zögerlich oder besonnen? Über diese Frage wird im Bundestag und an deutschen Stammtischen leidenschaftlich diskutiert. Zuletzt hat die Bundesregierung der Ukraine 18 Leopard 2 A6 Kampfpanzer zugesagt, die Ausbildung ukrainischer Soldaten daran läuft derzeit. Mittlerweile hat die Bundesregierung Rüstungsgüter für die Ukraine im Wert von mehr als 2,5 Milliarden Euro genehmigt. Bis Mitte Januar lag Deutschland damit auf Platz drei nach den USA und Großbritannien.

Militär-Experte Thomas Wiegold
Sondervermögen für die Bundeswehr: Was bis jetzt geschah
Wohl am meisten wurde die Zeitenwende-Rede mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr verknüpft. Scholz hatte den Abgeordneten des Bundestags zugerufen: "Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind." Nach vielen Jahren Sparpolitik wurden der Bundeswehr 100 Milliarden Euro in Form eines Sondervermögens in Aussicht gestellt. Es dauerte dreieinhalb Monate bis Bundestag und Bundesrat der Grundgesetzänderung zustimmten. Bis das Verteidigungsministerium dem Haushaltsausschuss die ersten Rüstungsprojekte vorlegte, dauerte es bis Dezember.
Eine Bestellung von modernen F-35-Kampfflugzeugen – doch es könnte Jahre dauern, bis die dafür geplanten acht Milliarden Euro abgerufen werden. Denn bezahlt werden darf nur, was bereits geliefert wurde. Und das Lieferdatum terminiert das Ministerium noch recht wolkig auf "ab 2026". Laut Verteidigungsministerium ist mittlerweile zumindest ein Drittel des Sondervermögens verplant.
Union: Zeitenwende in Zeitlupe
Die Union kritisiert das Zeitlupentempo, in dem das Sondervermögen eingesetzt wird. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kritisiert, das Geld müsse ausgegeben "und nicht von der Inflation aufgefressen werden". Bisher seien schlicht zu wenige Verträge mit Rüstungsunternehmen geschlossen worden.
Aus bayerischer Sicht gebe es "unglaublich viele erfolgreiche und technologiestarke Unternehmen, die gerne einen Beitrag leisten würden, um Deutschland sicherer zu machen", sagte Söder. Aber die seien "unsicher, ob das noch gewollt wird".
Pistorius: 100 Milliarden allein werden nicht reichen
Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius sagt dagegen, man könne nicht innerhalb von "wenigen Minuten zig Milliarden ausgeben". Um das von Söder kritisierte Planbarkeitsproblem für die Rüstungsindustrie in den Griff zu kriegen, kündigt Pistorius Abschlagszahlungen an, die schon für den Auftrag fällig werden, nicht erst bei der Lieferung. Aus Pistorius Sicht hat das noch einen Vorteil: So würde mit Blick auf das Sondervermögen dokumentiert, "dass Geld abfließt".
Pistorius mahnt allerdings auch, dass die 100 Milliarden Sondervermögen allein nicht ausreichen werden. Es brauche mehr Etat für das Wehrressort. Zehn Milliarden Euro mehr im Jahr schweben dem Minister vor. Allerdings fürchten einige sogar in Pistorius‘ eigener Partei, dass das auf Kosten anderer Koalitionspläne gehen könnte. SPD-Chefin Saskia Esken etwa erinnert an die Kindergrundsicherung. Die sei auch noch nicht finanziert.
CDU-Außenpolitiker Kiesewetter über die Zeitenwende:

Ein Jahr "Zeitenwende" (Symbolbild)
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