Bundeswehrsoldat vor einem Leopard-Panzer
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Bundeswehrsoldat vor einem Leopard-Panzer

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Ein Jahr "Zeitenwende": Die Bundeswehr drängt auf mehr Tempo

Eine "Zeitenwende" für Europa nannte Kanzler Scholz den russischen Angriff auf die Ukraine. Die Bundeswehr sollte mit Milliarden-Investitionen einsatzbereit gemacht werden. Rund ein Jahr später gibt es viel Kritik - nicht nur aus der Truppe.

"Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents" - mit diesen Worten begann Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor rund einem Jahr, am 27. Februar 2022, seine Regierungserklärung vor dem Bundestag zum Beginn des Krieges in der Ukraine.

"Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind", so der Kanzler. Erreicht werden sollten diese Ziele durch Schaffung eines "Sondervermögens Bundeswehr" in Höhe von100 Milliarden Euro "für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben". Ein Jahr nach der Ankündigung der milliardenschweren Investitionen fällt die Zwischenbilanz zur "Zeitenwende" bei Vertretern der Truppe kritisch aus.

Bundeswehrverband: "Es braucht mehr Tempo"

Der Deutsche Bundeswehrverband beklagt jedoch ein zu schleppendes Tempo bei der Modernisierung der Truppe. "Für die Soldaten hat sich seitdem noch nichts spürbar verbessert", erklärte militärisch knapp der Chef des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, in der "Bild am Sonntag". Dies sei zwar in der Kürze der Zeit auch kaum möglich, so Wüstner, "dennoch braucht es mehr Tempo. Ob bei Material, Personal oder Infrastruktur, es braucht in dieser Legislaturperiode eine echte, in der Truppe spürbare Wende, sonst war's das mit der Zeitenwende."

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Die Einsatzfähigkeit steigt nicht

Wüstner hält die Bundeswehr derzeit weder für voll einsatzfähig noch für abwehrbereit: "Das war die Bundeswehr zu Beginn des Kriegs in der Ukraine schon nicht. Aktuell erfüllt sie die zugewiesenen Aufträge, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was wir in die Nato künftig einbringen müssen."

Durch die Materiallieferungen an die Ukraine seien weitere Lücken entstanden, zugleich gehe es bei der Materialbeschaffung viel zu langsam voran. "Wir haben bis heute keine einzige Panzerhaubitze, die wir im letzten Jahr an die Ukraine abgegeben haben, oder gar Ersatzteilpakete dafür neu bestellt", sagte Wüstner. Die Folge sei, "dass die materielle Einsatzbereitschaft der Artillerietruppe weiter sinkt". Auch die 18 Leopard-2-Kampfpanzer, die Deutschland an die Ukraine liefern werde, müssten "in den nächsten Wochen nachbestellt werden", forderte Wüstner.

Deutschland müsse beim Thema Rüstung wieder größer denken, so der Verbandschef. "Es wird nur einen Turnaround in der Produktion geben, wenn man der Industrie frühzeitig mitteilt, wie viele Kampfpanzer, Munition und Geschütze die Bundeswehr in den nächsten zwei bis fünf Jahren benötigt, und dafür Abnahmegarantien gibt", meinte er: "Es muss möglich sein, dass monatlich wieder zehn statt drei Leopard-Panzer vom Band rollen."

Heeresinspekteur: "Sehr großer Druck" bei der Beschaffung

Auch Deutschlands oberster Heeressoldat, Heeresinspekteur Alfons Mais, sieht eine große Dringlichkeit, die an die Ukraine abgegebenen Waffensysteme schnell nachzukaufen. "Ich sehe einen sehr großen Druck, die Nachbeschaffungen jetzt mit größtem Tempo voranzubringen. Wir haben die Leopard-Panzer noch nicht abgegeben und überlegen richtigerweise schon, wie wir sie schnellstmöglich ersetzen können", sagte Mais der Nachrichtenagentur dpa: "Bei der Panzerhaubitze und bei den Raketenwerfern hat es sehr lange gedauert, aber auch dort ist jetzt ein extrem hoher Druck drauf."

"Das Sondervermögen allein reicht nicht"

Mit dem Ersetzen von Material, das an die Ukraine abgegeben wurde, sei es aber bei weitem noch nicht getan, so der Generalinspekteur. Ziel müsse der "materielle Aufwuchs in Richtung Vollausstattung" sein - und dafür werde "das Sondervermögen alleine nicht reichen".

Mais hatte unmittelbar nach dem russischen Angriff auf die Ukraine die jahrelange Vernachlässigung bei der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr scharf kritisiert und geschrieben, diese stehe "mehr oder weniger blank da". Nun erklärt er: "Ich versuche, den Begriff blank nicht mehr zu verwenden. Das wird der Lage heute, ein Jahr später nicht mehr gerecht." Es habe sich "seitdem viel getan" und die Einsatzbereitschaft dürfe nicht auf das Material verengt werden. "Die Dinge bewegen sich nach vorne", sagt Mais.

Bündnisverteidigung stellt die Truppe vor neue Aufgaben

Die Hilfe für die Ukraine sei eine "riesige Kraftanstrengung, die aber sein muss", so der Generalinspekteur. Die Truppe wisse das, frage aber nach der Zukunft. "Die Lücken passen nicht zu den zukünftigen Aufträgen", sagt Mais: "Die Regierung hat der Nato Fähigkeiten zugesagt, und das wollen wir natürlich einhalten", erklärt er und betont, dass die nun geforderte Landes- und Bündnisverteidigung etwas ganz anderes sei als etwa der Einsatz in Afghanistan.

"Wenn es draußen zu gefährlich wurde, konnten wir alle mal zwei Tage im Camp bleiben. Das ist im Szenario Landes- und Bündnisverteidigung völlig abwegig. Da ist nicht 'Mitmachen' das Ziel, sondern gewinnen", so Mais. In Afghanistan habe die Bundeswehr Gefechte nicht gesucht, "das wäre jetzt anders. In der Landes- und Bündnisverteidigung suchen die Verbände das Gefecht. Das heißt: Raum einnehmen, Raum verteidigen, das sind ganz andere Begriffe. Initiative ist hier das Schlüsselwort."

Rüstungsbranche wartet auf Aufträge aus 100-Milliarden-Paket

Die Rufe aus Bundeswehr nach mehr und neuer Ausrüstung sind also unüberhörbar - bei der deutschen Rüstungsindustrie stoßen Fragen nach den bisherigen Auswirkungen des 100-Millairden-Sondervermögens aber auf ein verhaltenes Echo. Man blickt optimistisch nach vorne, äußert hinter vorgehaltener Hand aber auch Kritik.

"Wir sind zuversichtlich, dass wir jetzt in der Breite Aufträge bekommen", sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), Hans-Christoph Atzpodien, der dpa. Die Industrie stehe als Partner der Bundeswehr bereit und könne schnell loslegen.

Zum Artikel "Modernisierung der Bundeswehr kommt offenbar kaum voran"

Hoffnung auf Bewegung

Bisher wurde vom Sondervermögen nur ein kleiner Teil abgerufen- und Verteidigungsminister Pistorius erklärte erst Anfang des Monats, dass er sich um Leopard-Nachbestellungen kümmern wolle - eine Nachlieferung brauche aber Zeit.

"Es ist bedauerlich, dass es aus dem Sondervermögen bisher nur wenige Bestellungen bei deutschen Unternehmen gab, weil die Politik im letzten Jahr stark mit Haushaltsfragen beschäftigt war, aber es ist nicht zu ändern", sagt Atzpodien dazu. immerhin suche Pistorius "das Gespräch mit uns" und packe "die wichtigen Ausrüstungsthemen an". Atzpodien hofft daher in den kommenden Wochen und Monaten mit Bewegung bei der Auftragsvergabe.

"Das Beschaffungswesen ist weiter im Tiefschlaf"

Ein anderer Vertreter der Rüstungsindustrie, der seinen Namen und den seiner Firma nicht genannt haben will, ist hingegen über das lange Warten auf Aufträge frustriert. Vor einem Jahr habe das Verteidigungsministerium in eilig einberaumten Online-Schalten mit der Rüstungsindustrie ein rasches Vorgehen in Aussicht gestellt und schnelle Lieferung eingefordert, erinnert sich der Manager. Passiert sei dann wenig. "Das Beschaffungswesen der Bundeswehr ist weiter im Tiefschlaf. Es wird gebremst und blockiert." Es dauere alles viel zu lang.

Rheinmetall hat schon einen kleinen Auftrag

Bei Rheinmetall, dem größten Rüstungskonzern Deutschlands, heißt es immerhin, der Angriff Russlands auf die Ukraine habe "nochmals für eine stärkere und schnellere Nachfrage gesorgt". "Vor uns liegen Jahre des starken Wachstums", erklärte ein Sprecher. Man nähere sich einem Auftragsbestand von 30 Milliarden Euro, der im kommenden Jahr auf 40 Milliarden wachsen solle.

Als eine der wenigen Firmen hat Rheinmetall auch schon einen kleinen Auftrag aus dem Sondervermögen bekommen. Hierbei ging es um Schutzausstattung für Soldaten. Mit Blick auf künftige Bestellungen des Bundes heißt es: "Wir rechnen mit großen Aufträgen im Bereich der Munition, der Gefechtsfahrzeuge oder auch der weiteren Digitalisierung."

Mit Informationen von dpa und AFP

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