Als Olaf Scholz vor einem Jahr das SPD-Team für das neue Bundeskabinett vorstellt, reiben sich manche in Berlin die Augen. Die bisherige Justizministerin Christine Lambrecht wird Chefin des Wehrressorts – schon vor dem Ukraine-Krieg eines der wichtigsten Ministerien. Dabei hat sie sich im Jahr zuvor eigentlich von der Bundespolitik verabschiedet, nach mehr als 20 Jahren im Parlament.
Lambrecht bei Amtsübernahme keine Verteidigungsexpertin
Lambrecht selbst sagt im vergangenen Dezember, ihre Nominierung komme für viele überraschend. Tatsächlich hat sich die Juristin vom linken SPD-Flügel bis dahin nicht als Bundeswehrexpertin hervorgetan. Doch das muss nicht gegen sie sprechen: Vor ihr sind schon andere ohne ausgesprochenes Fachwissen an die Spitze des Wehrressorts gelangt.
Mit erster Auslandsreise setzt Lambrecht Signal ans Baltikum
Anfangs läuft es nicht schlecht für die neue Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt. Mit ihrer ersten Auslandsreise als Verteidigungsministerin beweist sie ein Gespür für politisches Timing. Lambrecht besucht das deutsche Einsatzkontingent in Litauen, "um ein deutliches Signal zu senden, dass wir an der Seite unserer Verbündeten stehen".
Stärkung der Nato-Ostflanke im Fokus
Ein Zeichen an die östlichen Nato-Partner, aber auch an das Publikum zuhause: Der Besuch in Litauen soll zeigen, dass Lambrecht die Stärkung der Nato-Ostflanke wichtig ist. Denn die dortigen Verbündeten sind bereits zu diesem Zeitpunkt in Aufruhr – wegen des russischen Truppenaufmarschs an der Grenze zur Ukraine. Und während in Berlin noch darüber diskutiert wird, ob das Putin-Regime nur blufft, macht Lambrecht zwei Monate vor dem russischen Überfall aufs Nachbarland ihre bündnispolitischen Prioritäten klar.
5.000 Helme für die Ukraine
Nur ein paar Wochen nach der Litauen-Reise aber bietet die Ministerin ihren Kritikern Angriffsfläche. Sie verspricht der Ukraine 5.000 Helme – und will das als "ganz deutliches Signal" verstanden wissen. Doch angesichts der militärischen Schlagkraft des Gegners erscheint Lambrechts Ankündigung vielen als völlig unzureichend. Wochenlang hagelt es Spott.
Selbstbewusster Lambrecht-Auftritt im Bundestag
Kurz zuvor hängt Lambrecht selbst die Latte recht hoch, als es im Januar im Bundestag um ihr neues Ressort geht: Ja, das Amt der Verteidigungsministerin sei eine große Herausforderung, aber sie sage immer: "Wenn‘s einfach wäre, würden es andere machen!"
Hubschrauber, die nicht fliegen und Gewehre, die nicht treffen – solche Dinge hätten zu oft für Gespött gesorgt, stellt Lambrecht damals fest. Um solche Missstände abzustellen, sei "ein ganz dickes Brett" zu bohren. Worte, die bis heute nachhallen. Doch am Zustand der Bundeswehr hat sich auch ein Jahr nach Lambrechts Amtsübernahme nichts Grundlegendes geändert.
100-Milliarden-Programm für die Bundeswehr
Und das, obwohl die Zeitenwende Lambrecht über Nacht einen 100-Milliarden-Euro-Sondertopf für die Bundeswehr bringt. Eine Summe, von der ihre Vorgängerinnen und Vorgänger im Amt nur träumen konnten. Doch das Geld fließt bisher langsamer ab, als sich das viele erhofft haben.
Von den 100 Milliarden soll nächstes Jahr nicht einmal ein Zehntel ausgegeben werden. Zwar konkretisieren sich inzwischen die Pläne zur Beschaffung von F-35-Kampfjets. Die Erfolgsmeldung aber geht in einer hitzigen Diskussion über angebliche Risiken des Projekts unter.
Für Union ist Lambrecht angezählt
Die größte Oppositionsfraktion im Bundestag nutzt seit Monaten jede Gelegenheit, Lambrecht zu attackieren. Unter Führung der Sozialdemokratin werde die Bundeswehr von Tag zu Tag schwächer, sagt der CDU-Abgeordnete Johann Wadephul während der Haushaltswoche im Bundestag: "Es kommt nichts an!" Seiner Ansicht nach wäre es besser, Lambrecht würde sich zurückziehen.
Auch nach Ansicht des CSU-Abgeordneten Florian Hahn ist Lambrecht angezählt: "So wird das nichts mit der Zeitenwende", sagt der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion mit Blick auf die Aufregung um die F-35-Jets. Im Gespräch mit BR24 fordert er, "dass die Ministerin ausgewechselt wird".
Militärisches Gerät "nicht einfach beim Baumarkt" erhältlich
Lambrecht reagiert auf die Kritik zunehmend genervt. Wadephul und seinen Fraktionskollegen ruft sie in der Bundestagsdebatte zu, man könne komplexe Waffensysteme eben "nicht einfach beim Baumarkt aus dem Regal herausholen – also jetzt mal im Ernst!"
Tatsächlich ist es eher eine Sache von Jahren als von Monaten, Kampfflugzeuge oder Kriegsschiffe zu beschaffen. Jedoch ist die Mängelliste der Bundeswehr nach wie vor erstaunlich lang – auch bei Dingen, die eigentlich schneller zu beschaffen wären. Immer noch fehlt es der Truppe am Nötigsten: an Schutzwesten, warmer Kleidung, modernen Funkgeräten. Und an Munition.
Munitionsmangel setzt Lambrecht unter Druck
Wie sehr Lambrecht in der Defensive steckt, zeigt ein regierungsinterner Schriftwechsel zum Munitionsmangel, der BR24 vorliegt. Ende November wendet sich die Ministerin mit der Bitte ans Finanzressort, "jetzt unmittelbar in signifikantem Umfang Haushaltsmittel […] bereitzustellen", um das Problem in den Griff zu bekommen.
Briefwechsel endet mit Schlappe für Lambrecht
Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner aber lässt Lambrecht abblitzen – und einen Staatssekretär antworten. In dem Schreiben heißt es, das Verteidigungsministerium habe das Anliegen "weder bei der Verhandlung zum Sondervermögen […] noch im Zuge des parlamentarischen Verfahrens zum Ausdruck gebracht". Anders gesagt: Die Ministerin habe ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
Besuch in Mali löst Diskussion über Lambrechts Schuhe aus
Und dann ist da noch die Sache mit den Pumps. Im Frühjahr trägt die Oberkommandierende bei einem Besuch ihrer Soldatinnen und Soldaten in Mali hochhackige Schuhe, was ihr viel Häme einbringt. Eigentlich würde die Ministerin das Kapitel wohl gerne hinter sich lassen. Doch die Bissigkeit, mit der die Diskussion über angeblich falsches Schuhwerk im Wüstensand geführt wird, hinterlässt Spuren.
Lambrecht will nicht an Äußerlichkeiten gemessen werden
Und so kommt die Ressortchefin Monate später wieder darauf zu sprechen, anlässlich einer sicherheitspolitischen Veranstaltung in Berlin. Es geht dabei um die großen Linien – und darum, woran Lambrecht einmal gemessen werden will. Jedenfalls nicht an ihren Schuhen, antwortet sie nach kurzem Zögern.
Teile der Opposition haben ihr Urteil längst gesprochen: Lambrecht sei als Chefin des Wehrressorts gescheitert. Und auch in den Reihen der Ampel-Koalition wächst die Ungeduld, zuletzt befeuert durch die Probleme mit der Munition und die Irritationen rund um den Kampfjet F-35. Alles in allem blickt Lambrecht auf ein durchwachsenes erstes Jahr als Verteidigungsministerin zurück.
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