Sidney Poitier: In Hollywood in Ketten
Sidney Poitier (* 20. Februar 1927 † 6. Januar 2022)
Er war der erste schwarze Superstar Hollywoods und der erste, der einen Oscar bekam - 1964, im gleichen Jahr, in dem der US-Kongress die Rassentrennung aufhob. Weitere Ehrungen folgten, vor allem aber: Hauptrollen in Meisterwerken wie "In der Hitze der Nacht". Ein Leben frei von Rassismus? Das trifft allenfalls auf Poitiers späte Jahre zu, und auf seine Kindheit: auf der Bahamas-Insel Cat Island, auf der seine Eltern Tomaten züchteten, gab es unter 100 Einwohnern nur zwei bestens integrierte Weiße.
Am Broadway, wo Poitier seine Laufbahn begann, hatten Farbige in den meisten Bars keinen Zutritt. Und in Hollywood? Seine erste Hauptrolle spielt er in Otto Premingers Filmversion von "Porgy und Bess", einem Musical, das alle Realitätsbezüge hinter den aufwändigen Kulissen versteckt. Poitier nahm nur an, weil er eine Karrierechance ahnte - und weil er sonst nicht für "Flucht in Ketten" (1958) besetzt worden wäre, Stanley Kramers Ausbruchsdrama, das als Statement gegen Rassismus Filmgeschichte geschrieben hat. Sidney Poitier spielt einen Häftling, dem die Flucht gelingt - angekettet an Tony Curtis, der einen rassistischen Weißen mimt (während er sich in Wirklichkeit dafür einsetzt, dass Poitier eine akzeptable Gage bekommt).
Der afroamerikanische Autor James Baldwin hat die zeitgenössischen Reaktionen des Publikums auf den Schluss des Films festgehalten. Da gelingt es Poitier, auf einen Zug aufzuspringen; Curtis aber verlässt die Kraft, worauf Poitier aus Solidarität wieder abspringt. Das liberale weiße Publikum feierte diesen Akt der Solidarität. Die Schwarzen riefen: "Spring wieder auf den Zug, du Idiot!".
Nino Cerruti: Chefpolierer des schönen Scheins
Nino Cerruti (* 25. September 1930 † 15. Januar 2022)
1950: der angehende Philosophie-Student Nino ist eben dabei, sich in drei Jahrtausende des Nachdenkens über das Sein einzuarbeiten, da kommt aus der Heimat, dem piemontesischen Biella die Nachricht: Der Großvater ist tot, der zwanzigjährige Enkel ab sofort für die Textilfabrik der Familie verantwortlich. Von da an beschäftigt er sich mit anderen Stoffen, die Nino mit Fingerspitzengefühl auswählt und mit - das ist ihm wichtig - viel Fantasie bearbeitet.
Beides beweist er auch bei geschäftlichen Entscheidungen. Cerruti engagiert einen unbekannten Designer namens Giorgio Armani, beackert erfolgreich das damals noch brachliegende Feld der Luxus-Herrenmode, gründet diverse Modelinien und 1967 das Stammhaus "Cerruti 1881", dessen Flagship Store er im Herz von Paris eröffnet. In den 80er-Jahren erobert Cerruti Hollywood: Dass sich die Kinowelt in "Pretty Woman" Julia Roberts verliebt, liegt ein wenig auch an Cerruti.
Gerne umgibt er sich mit Schönen, Reichen, Schnellen, mit Claudia Schiffer (Foto), Catherine Deneuve, Ingmar Stenmark - sofern er sie in seine Stoffe hüllen kann. Denn der stets aus dem Ei gepellte Herr ist Geschäftsmann und Arbeitstier. Ein halbes Jahrhundert lang; bis er sein Imperium 2000 an italienische Investoren verkauft, die bald an amerikanische Investoren verkaufen, die später an chinesische Investoren verkaufen. Im gleichen Jahr wird Cerruti vom italienischen Staat mit einem Titel dekoriert, wie ihn so wohl nur das Belpaese erfinden kann: Cavaliere del Lavoro - Ritter der Arbeit.
Hardy Krüger: The Good German
Eberhard August Franz Ewald "Hardy" Krüger (* 12. April 1928 † 19. Januar 2022)
Zum Film brachten den NS-Eliteschüler Eberhard seine Eltern, beide glühende Nazis. Zum Nachdenken brachte ihn ein väterlicher Schauspielkollege, Hans Söhnker, der dem Jungen die Augen öffnete und nach Drehschluss seiner Propagandastreifen Juden zur Flucht verhalf. Das Nachdenkliche ist Hardy Krüger geblieben (auch wenn ihn das Publikum in dieser Rolle erst später sehen wollte). Im Nachkriegsdeutschland legte der Blonde mit dem markanten Gesicht unter dem Namen Hardy eine rasante Karriere hin. Als "German Hero" und Frauenschwarm war er nach "Einer kam durch" (1956) auch international ein gefragter Leinwandheld - und durfte als einer der wenigen Deutschen mehr als in hartem Deutsch Befehle brüllen.
Krüger spielte in rund 75 Filmen die Hauptrolle, drehte unter anderem mit John Wayne ("Hatari!", 1962) sowie mit James Stewart und Peter Finch ("Der Flug des Phoenix", 1965). Auch im französischen Oscar-Film "Sonntage mit Sybill" - hierzulande kaum bekannt - spielte er die Hauptrolle.
Mit der ARD-Reihe "Weltenbummler" schuf er einen TV-Klassiker, obwohl er mit dem Bummel-Begriff haderte. Krüger war ein Reisender der rastlosen Sorte, als Weltbürger und Grenzgänger permanent unterwegs zwischen Nordseeküste, afrikanischem Dschungel und der Wüstenstadt Palm Springs, seinem, nun ja, Altersruhesitz. Dort ist er mit 93 Jahren von heute auf morgen gestorben.
Meat Loaf: Der dicke Junge lernt fliegen
Marvin (später Michael) Lee "Meat Loaf" Aday (* 27. September 1947 † 20. Januar 2022)
Was macht der dicke Junge, mit dem auf dem Pausenhof keiner spielen will, den sogar sein Vater "Hackbraten" nennt? Er macht, was die vermeintlich Uncoolen am Besten tun: den Spott gegen die Spötter richten, solange, bis es cool ist. Beziehungsweise "big". Marvin Aday kommt aus Texas und dort, singt er 2002 in "Tear me down", sei schließlich alles groß.
"He grew into a big man, with a big voice / And he sings big songs and has big hits / You can try and tear him down!".
Da konnte Meat Loaf längst selber bestimmen, wer mit ihm spielen durfte. Seine Musik(-karriere) ist ein bombastischer Bastard aus Rock und Musical. Den Anfang machen Engagements in "Hair", erst in LA, dann am Broadway; der Durchbruch kommt mit der Rolle des Eddie in der Rocky Horror Picture Show. Danach folgt Bat out of Hell, das der Produzent und erklärte Wagner-Fan Jim Steinman auch zunächst als Musical geplant hat - das dann aber das bis heute fünftmeistverkaufte Album der Rockgeschichte wird.
Meat Loafs Erfolgsgeheimnis: Seine Stimme geht über Oktaven, er hat eine enorme Bühnenpräsenz, er gibt alles (und nimmt zuviel - Alkohol und Zigaretten). Er hat Stimmbandärger, Gehirnerschütterungen, Herzprobleme. Dafür fliegen der großen Fledermaus die Herzen der Fans zu. Sicher auch im Jenseits.
Götz Werner: Philosoph hinterm Shampoo-Regal
Götz Werner (* 5. Februar 1944 † 8. Februar 2022)
In wenigen Ländern spielen Drogerien beim täglichen Einkauf eine so große Rolle wie in Deutschland, das lange einen Vierkampf der Giganten erlebte: Müller - Rossmann - Schlecker - und eben Götz Werners dm-Drogeriemärkte. Die letztgenannten zeigten, wie unterschiedlich man das Geschäft aufziehen kann: der Schwabe Schlecker, der an allem sparte, bis sich die Kunden den Weg in seine Filialen sparten, und Werner, der gebürtige Heidelberger und Jugendmeister im Rudern, der mit einem abgewandelten Goethe-Zitat warb und früh auf biologischen Anbau und flache Hierarchien setzte. Mit Erfolg: Für dm arbeiten 66.000 Menschen in 14 europäischen Ländern, Jahresumsatz: 12,3 Milliarden Euro.
Gesellschaftspolitisch aktiv war Werner auch jenseits der Regalreihen. In Vorträgen und Talkshows warb er für das Konzept des bedingungsloses Grundeinkommen, von dem er erhoffte, dass es den Menschen in Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung und Automatisierung Freiräume für Eigeninitiative schaffen könnte. "Dass er die Vollendung dieser Idee nicht mehr erleben würde, war ihm stets bewusst", heißt es in der Mitteilung über seinen Tod. Gleichwohl habe er sich dafür mit großer Energie eingesetzt, weil er sie für sich als richtig erkannte.
Thomas Rosenlöcher: west-östlicher Grenzgänger
Thomas Rosenlöcher Thomas Rosenlöcher (* 29. Juli 1947 † 13. April 2022 in Kreischa)
Vermutlich der unbekannteste unter unseren Toten des Jahres, denn wer liest heute noch Gedichte? Dabei wäre der sächsische Dichter mit dem lyrischen Namen ein guter Grund, (wieder) damit anzufangen: So präzise und pointiert, dabei frei von Bildungshuberei und mythischem Raunen schrieben nicht viele. Ob Bäume, das Wandern, die DDR oder der Tod: Rosenlöcher schaute genau hin, spann weiter, fasste seine überbordende Fantasie in strenge Formen wie den Schillerschen Blankvers - was die Leser faszinierte, die Zensur irritierte.
Etwa in einem seiner längsten (und schönsten) Gedichte mit dem Namen "Die Verlängerung", was nicht von ungefähr an Kafkas "Die Verwandlung" erinnert - und 1982 poetisch das Jahr 1989 vorwegnahm. Anders als Gregor Samsa, der sich in seinem Bett zu einem "ungeheuren Ungeziefer" verwandelt findet, liegt Rosendörfers Ich "in meinem Garten in Kleinzschachwitz" und beobachtet staunend, wie seine Beine immer länger werden, wodurch seine Füße erst den Garten, dann die Stadt verlassen und "durch Kornfelder ins Läuten stiller Mittagsdörfer" einrauschen, was schnell die Staatsmacht samt Polizei, Helikoptern und Dynamit auf den Plan ruft. Erst kurz vorm Brandenburger Tor und kurz bevor "die weitgereisten Füße abgesprengt" werden, mahnt das Ich zum Rückzug und spricht "in Anbetracht des großen Trösters Himmel" die ironischen Schlussworte: "Man muss bescheiden sein". Schließlich will Rosenlöcher weiter in Kleinzschachwitz sitzen, nicht in Bautzen.
In Sachsen geblieben ist Rosenlöcher auch nach 1989, gestorben in Kreischa.
"Des Lebens Zweck, Herr Lehrer? Hirngefunkel / Dem Tod die Arbeit schwer zu machen / der Stern für Stern die Sterne löschen muss." ("Hirngefunkel")
Willi Resetarits: A blede Gschicht
Wilhelm Thomas Resetarits (* 21. Dezember 1948 † 24. April 2022)
Wenn es den Ambros nicht geben würde, hätten wir immer noch ihn gehabt: Willi Resetarits alias Dr. Kurt Ostbahn, auf der Bühne als "Ostbahn-Kurti und die Chefpartie." Bei seiner Beerdigung auf dem Wiener Zentralfriedhof (eh!) hatte auch Österreichs Bundespräsident feuchte Augen. Aufgewachsen ist der Burgenlandkroate (sein Bruder Lukas ist als TV-Kommissar Kottan bekannt) im Arbeiterbezirk Wien-Favoriten; groß geworden ist er mit der kongenialen Übertragung seiner R'n'B-Favoriten von Springsteen, J.J. Cale und Bobby Womack ins Wienerische.
Jugendsünde: ein verdienter vorletzter Platz für Österreich beim ESC 1977. Alters-Seltsamkeit: eine Bibel-Lesung auf Wienerisch ("Da Jesus und seine Hawara"). Dazwischen sang Resetarits den Blues, als wäre es sein eigener, und engagierte sich ebenso unermüdlich für Menschenrechte. Seine Lebensphilosophie schwankte zwischen "A blede Gschicht ... oba uns is wuascht" (so der Titel einer Platte von 1992 mit Resetarits-Gesichtsmortadella auf dem Cover) und "Ich lebe gern, denn sonst wär ich tot" (Autobiografie 2018).
Mit 73 Jahren ist Resetarits nun vorzeitig an den Folgen eines Treppensturzes verstorben. - Insgesamt ein trauriges Jahr für Wien: Die Stadt für immer verlassen haben auch Christian Hummer, Keyboarder der auch von Resetarits geschätzten Band Wanda, und der Schauspieler Karl Merkatz ("Ein echter Wiener geht nicht unter").
Jean-Louis Trintignant: Französisches Jahrhundertgesicht
Jean-Louis Xavier Trintignant (* 11. Dezember 1930 † 17. Juni 2022)
Die französische Filmlegende zählte zu den gefragtesten Charakterschauspielern Europas und drehte mit Regisseuren wie Costa-Gavras, Roger Vadim, Eric Rohmer und Michael Haneke. Der Südfranzose wirkte als Frauenverführer, Richter, Faschist und Gauner in mehr als 140 Film- und Fernsehrollen mit.
Bekannt wurde er, als er 1956 in der Rolle des schüchternen Ehemanns an der Seite von Brigitte Bardot in "Und ewig lockt das Weib" auftrat - und dann eine Liaison mit der Schauspielerin einging. Es folgten Hauptrollen etwa in "Ein Mann und eine Frau" (1966), "Meine Nacht bei Maud" (1969) und "Drei Farben: Rot" (1994). Eine private Tragödie ließ Trintignant dann jahrelang von der Leinwand verschwinden: seine Tochter Marie war von ihrem Partner, dem Sänger Bertrand Cantat, totgeprügelt worden.
Michael Haneke holte Trintignant nach mehrjähriger Pause wieder zum Film. In "Liebe" aus dem Jahr 2012 spielt er einen Rentner, der seine nach einem Schlaganfall ans Bett gebundene Frau vom Leiden erlöst. Erneut mit Haneke, den er für den besten Regisseur der Welt hielt, drehte er "Happy End" aus dem Jahr 2017.
Shinzo Abe: Japans harte rechte Hand
Shinzo Abe (* 21. September 1954 † 8. Juli 2022)
Der frühere Ministerpräsident Japans (2006-2007; 2012-2020) war in seiner Heimat umstritten, doch niemand regierte das Land länger als Shinzo Abe. Den einen galt der Rechtskonservative als Patriot, der Japan "zurückholen" wollte zu alter Stärke, den anderen als skandalumwitterter Populist und außenpolitischer Hardliner, der Japans pazifistische Nachkriegsordnung revidieren wollte. Seine als "Abenomics" bekannte neoliberale Wirtschaftspolitik konnte den Niedergang der Exportnation nicht stoppen.
Bei einem Wahlkampfauftritt in der japanischen Stadt Nara wurde Shinzo Abe von einem Gegner der umstrittenen Mun-Sekte erschossen, mit der Abe Kontakt hatte. TV-Aufnahmen zeigen, wie Abe auf einer Bühne steht, als ein lauter Knall zu hören ist und Rauch in der Luft steht. Für Japan, wo auch die Politik möglichst diskret und geräuschlos abgewickelt wird, ein Schock. Doch das Land geht schnell zur Tagesordnung über. Zwei Tage nach dem Attentat erhält Abes alte Partei bei der Wahl mehr Stimmen als ehedem mit ihm, noch am Abend hat sich eine neue Regierung gebildet.
"Uns Uwe": Des Fußballs gute(r) Seele(r)
Uwe Seeler (* 5. November 1936 in Hamburg; † 21. Juli 2022 in Norderstedt)
"Uns Uwe" nannten sie ihn, nicht nur in Hamburg, wo er als Mittelstürmer den HSV zum Glänzen brachte und dem Club die Treue hielt als längst der Lack abplatzte. Für Franz Beckenbauer war er "ein wunderbarer Freund". Entertainer Olli Dittrich, der im Volksparkstadion eine ungewöhnliche Trauerrede hielt (nachzuhören bei ndr.de), träumte als Junge davon, Seeler zu sein - im Wortsinn. Kornelia Baumgartner vom Feuerwehrverein Tiefenthal in der Oberpfalz schmiss extra den Grill wieder an, als der Hamburger vor ein paar Jahren als Überraschungsgast beim Sommerfest hereinschneite. "Das ganze Dorf, auch alle, die schon vom Fest wieder daheim gewesen sind, die sind nochmal gekommen und waren total begeistert von seiner Art."
Ein Mensch wie du und ich, so wird Uwe Seeler immer wieder beschrieben, wobei "du und ich" für diesen Vergleich an unserer Trefferquote arbeiten müssen. Seeler erzielte für seinen HSV 404 Treffer in 476 Partien. In der Saison 1963/64 war Seeler der erste Torschützenkönig der Bundesliga, danach dreimal "Fußballer des Jahres" und im sagenumwobenen WM-Jahr 1966 Kapitän der Nationalmannschaft.
Nun ist "uns Uwe" mit 85 Jahren friedlich entschlafen - in einem Jahr, in dem der WM-Fußball zur Adventszeit durch auf Sand und menschliches Leid gebaute Wüstenstadien rollte. Warum Seeler auch Menschen vermissen, die ihm nie begegnet sind und bei HSV-Spielen sonst wegzappen, zeigt vielleicht diese Begebenheit aus dem Jahr 1961. Damals verhandelte der 25-jährige Jungstar zwei Tage lang mit einer Abordnung des berühmten Inter Mailand über einen millionenschweren Wechsel. Am Ende schüttelte Seeler den Kopf und schickte Inter-Trainer Helenio Herrera mit dem Geldkoffer südwärts.
Teil 2 unserer Nachruf-Galerie finden Sie hier.
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