Der Rechtsanwalt Onur Özata im Portrait
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Rechtsanwalt Onur Özata

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"Die Aussagen der Überlebenden sind extrem wertvoll"

Als Anwalt vertritt Onur Özata die Opfer von Neonazi-Anschlägen und Holocaust-Überlebende. Aktuell im Prozess gegen eine 97-jährige KZ-Sekretärin. Im Interview erzählt er, warum er solche Verfahren auch Jahrzehnte nach den Taten noch sinnvoll findet.

Über dieses Thema berichtet: radioFeature am .

In Itzehoe läuft derzeit der Prozess gegen Irmgard F. Der 97-Jährigen wird vorgeworfen, in den Jahren 1943 bis 45 an der Ermordung von über 11.380 Menschen beteiligt gewesen zu sein – als Sekretärin des Lagerkommandanten des KZ Stutthof im heutigen Polen. Das Urteil wird am 20. Dezember erwartet. Der Berliner Anwalt Onur Özata vertritt einige der Nebenkläger, wie die 100-jährige Holocaust-Überlebende Fania Brancovskaja aus Litauen, deren jüngere Schwester damals in das KZ verschleppt wurde.

Amie Liebowitz: Warum hat es so lange gedauert, Irmgard F. vor Gericht zu bringen? Immerhin ist sie schon 97 Jahre alt.

Özata: Die Justiz hat Menschen wie Irmgard F. jahrzehntelang nicht als Täter, sondern lediglich als Zeugen des Holocaust behandelt. Die Strafverfolgungsbehörden haben lange Zeit nur die Elite der Nazis als wahre Täter verfolgt – Männer wie Hitler, Himmler, Göring und so weiter. Aber nicht die vielen anderen, die bei der systematischen Ermordung der europäischen Juden geholfen haben. Zum Beispiel wurden KZ-Wachen als gewöhnliche Soldaten angesehen, die nur Befehle befolgt haben. Man wollte unter dem Kapitel Shoa einfach einen Schlussstrich ziehen.

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Finden Sie es frustrierend, dass der deutsche Staat so lange wenig unternommen hat?

Özata: Ja, ich denke, es ist ein großes staatliches Versagen, dass wir eine Person anklagen müssen, die nun 97 Jahre alt ist. Eine Anklage vor 60, 70 Jahren wäre für alle Beteiligten besser gewesen. So viele Opfer und ihre Angehörigen sind nicht mehr da. Alle diese Menschen hätten Gerechtigkeit verdient, aber sie wurde ihnen verwehrt.

Was wollen Ihre Mandanten in diesem Fall noch erreichen?

Özata: Für sie ist das Wichtigste, dass diese Prozesse überhaupt stattfinden – dass ihre Geschichten erzählt und die Opfer nicht vergessen werden.

Im KZ Stutthof kann man heute noch das ehemalige Arbeitszimmer von Irmgard F. besichtigen. Von ihrem Fenster aus schaut man direkt auf die Baracken. Ist es glaubwürdig, dass Irmgard F. behauptet, dass sie nicht genau wusste, was in dem Konzentrationslager vor sich ging?

Özata: Man kann nicht leugnen, dass jeder, der länger als einen Tag in Stutthof war, wusste, dass Menschen dort massenweise ermordet werden. Aber das Gericht muss die Frage beantworten: Kann ihre Tätigkeit als Sekretärin als Beihilfe zum vielfachen Mord gewertet werden? Kann man ihr einen strafrechtlichen Vorwurf für die Unterstützung und Aufrechterhaltung des Konzentrationslagerbetriebes machen? Bei einem SS-Wachmann, der Menschen mit der Waffe in der Hand von der Flucht abhält, ist das ganz klar zu beantworten. Aber reicht es auch aus, die Sekretärin des Lagerkommandanten gewesen zu sein?

Sie haben im Prozess viele Aussagen von Menschen gehört, die Stutthof überlebt haben.

Özata: Allein deshalb war es die ganze Arbeit wert, weil wir diesen Überlebenden zuhören durften.

Es sind hochbetagte Menschen, die nicht vergessen können, welches Leid ihnen zugefügt wurde. In ihren Berichten kommen immer wieder Krankheit, Gewalt und Tod vor. Bemerkenswerterweise strahlen sie trotzdem viel Freude und Lebensmut aus. Ihre Aussagen sind extrem wertvoll – denn was in diesem Gericht gesagt wird, bleibt für künftige Generationen erhalten. Das ist unbezahlbar.

Begegnen Sie auch Menschen, die finden, man sollte die Vergangenheit lieber ruhen lassen?

Özata: Sicher, viele verstehen nicht, warum man das Thema nicht einfach ruhen lässt. Die Shoa gehört für viele in die Geschichtsbücher und für manche gänzlich aus unserem Bewusstsein getilgt. Und dann werden Angriffe auch persönlich. Ich bekomme Briefe und Nachrichten von Leuten, die sagen: "Beschäftige dich mit deinen eigenen Problemen, Türke! Hör auf, Deutschland schlecht zu machen!"

Sie vertreten auch Opfer von Neonazi-Gewalt und ihre Angehörigen vor Gericht - etwa beim Prozess gegen den NSU oder den Attentäter von Halle. Sehen Sie eine Verbindungslinie zwischen den Holocaust-Helfern von einst und den Neonazi-Tätern von heute?

Özata: Definitiv. Beide verbindet ein eliminatorischer Antisemitismus und Rassismus. Die Wurzeln des Antisemitismus reichen hunderte Jahre zurück – und er existiert immer noch in der Mitte der Gesellschaft. Zudem beziehen sich die neuen Nazis auch immer auf ihre alten Vorbilder. Der Halle-Attentäter zum Beispiel hat bei seiner Tat und auch im Prozess später ausdrücklich den Holocaust geleugnet und gleichzeitig die Vernichtung jüdischer Mitbürger in Angriff genommen.

Die letzten Zeugen des Holocaust werden bald nicht mehr da sein. Wird sich damit auch ihre Arbeit ändern?

Özata: Sicherlich werden NS-Verbrecher schlicht aufgrund des Zeitablaufs irgendwann nicht mehr vor Gericht stehen. Rechtsextreme Ideologie aber oder Rassismus wird nicht einfach verschwinden, ohne dass wir als Gesellschaft etwas dagegen tun – und ohne dass der Staat entschieden dagegen vorgeht. Diese Dinge werden uns leider noch beschäftigen.

Das Gespräch wurde von Reporterin Amie Liebowitz auf Englisch geführt. Sie arbeitet für den BBC World Service in London und hat im Rahmen der Internationalen Journalisten Programme (IJP) für den Bayerischen Rundfunk recherchiert. Ihre Reportage über die Arbeit von Onur Özata hören Sie in der Sendung radioFeature.

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