Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erwartet eine "historische Woche" für sein Land. Und tatsächlich kommt die Ukraine ihrem Ziel einer EU-Mitgliedschaft voraussichtlich einen Schritt näher: Die EU-Staats- und Regierungschefs könnten beim Gipfel der Empfehlung der Kommission folgen und dem Land sowie der Republik Moldau den Status von Beitrittskandidaten geben.
Damit würden die EU-Staaten zusätzlich zur finanziellen und militärischen Hilfe für Kiew ein starkes symbolisches Signal der Solidarität aussenden. Außerdem gäben sie Moskau zu verstehen, dass sie sich im Kampf für gemeinsame Werte und die Unverletzlichkeit von Grenzen nicht einschüchtern lassen wollen. Und das in nie dagewesener Geschwindigkeit: Selenskyj hatte die Aufnahme seines Landes erst Ende Februar beantragt, vier Tage nach dem russischen Angriff.
Im Vorfeld viel Zustimmung …
Dafür braucht es einen einstimmigen Gipfelbeschluss. Die Staats- und Regierungschefs der drei größten EU-Staaten Deutschland, Frankreich und Italien haben ihre Unterstützung bei der gemeinsamen Reise von Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Mario Draghi nach Kiew vergangene Woche schon signalisiert. Polen und die baltischen Staaten sind ohnehin dafür.
Auch die Niederlande wollen dem Kandidatenstatus für die Ukraine zustimmen, obwohl das Land bei Rechtsstaatlichkeit und Demokratie noch Hausausaufgaben zu machen habe. Mit Blick auf die Ukraine haben mehrere EU-Staats- und Regierungschefs in den vergangenen Wochen betont, dass es bis zu einem tatsächlichen Beitritt Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern werde. Aus Berliner Regierungskreisen hieß es Anfang der Woche, es dürfe "keine Rabatte oder Abkürzungen" geben. Österreich fordert, die Westbalkan-Staaten nicht zu vergessen, die seit Jahren auf eine Beitrittsperspektive hoffen. Deshalb werden die EU-27 vor ihrem Gipfel in Brüssel Vertreter dieser sechs Länder treffen.
… und klare Kriterien für einen Beitritt
Die Europäische Union hat klare Voraussetzungen festgelegt, die ein Land für den Beitritt erfüllen muss. Die wurden 1993 beschlossen in Vorbereitung der ersten EU-Osterweiterung. Laut diesen sogenannten Kopenhagener Kriterien muss das betreffende Land über stabile Institutionen verfügen. Es muss nachweisen, dass es die Menschenrechte wahrt und Minderheiten schützt, es muss EU-Recht in sein nationales Recht übernehmen und dazu und eine wettbewerbsfähige Wirtschaft entwickeln, die mit dem EU-Binnenmarkt vereinbar ist.

Freiwillige im Einsatz in der Ukraine
Die ukrainische Wirtschaft ist wegen des Krieges von ausländischer Hilfe abhängig. Dazu kommt die grassierende Korruption: Im Korruptionswahrnehmungsindex der Organisation Transparency International belegt die Ukraine Rang 122 von 180 Ländern. Der EU-Rechnungshof urteilte im vergangenen September in einem Prüfbericht, Korruption auf höchster Ebene sei im Land weit verbreitet, sie stelle ein Haupthindernis für die Entwicklung des Landes dar und laufe den Werten der EU zuwider.
Warnbeispiel Ungarn
Berlin drängt außerdem darauf, die Aufnahmefähigkeit der EU zu berücksichtigen. So setzt sich die Bundesregierung dafür ein, in mehr Politikbereichen wie der Außen- und Sicherheitspolitik Mehrheitsentscheidungen zu ermöglichen. Dahinter stehen schlechte Erfahrungen mit Mitgliedsstaaten wie Ungarn und Polen, die mit ihrem Veto immer wieder Entscheidungen blockiert oder verzögert haben. So hat Ungarn wochenlang ein Ölembargo gegen Russland ausgebremst und gegen den Widerstand der restlichen Mitgliedsstaaten durchgesetzt, dass der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill von der Sanktionsliste gestrichen wurde. Außerdem verhindert nach Polen jetzt Ungarn eine EU-Einigung auf eine weltweite Mindeststeuer.
Das kann dauern
Trotz aller Solidaritätsbekundungen an die Adresse Kiews – auch als offizieller Beitrittskandidat hat die Ukraine einen langen Weg vor sich. Mehrere EU-Regierungen haben betont, dass es ein Schnellverfahren oder eine Abkürzung trotz der russischen Invasion nicht geben dürfe und nicht geben werde. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist nach eigenen Worten überzeugt, dass der EU-Gipfel grünes Licht geben wird, um dem Land mit 40 Millionen Einwohnern den Kandidatenstatus zu geben. Sie betont aber auch: "Wir wollen noch mehr Reformen sehen."
Wie lang und wie schwierig der Weg in die EU sein kann zeigt der Blick auf andere Kandidatenländer: Die Türkei hat den Status vor 23 Jahren bekommen – aber es ist derzeit unwahrscheinlich, dass das Land jemals EU-Mitglied wird. Nordmazedonien ist seit 17 Jahren Kandidat - wann die Beitrittsgespräche mit Brüssel beginnen, bleibt weiter offen, weil - siehe Vetorecht - Bulgarien den Prozess blockiert.
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