Es hat nicht einmal einen halben Tag gedauert, da stand schon die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht im Raum. Das war Montagmittag. Am Sonntagabend war bekannt geworden, dass die Ampel-Parteien einen neuen Vorschlag zur Wahlrechtsreform erarbeitet haben. Am Montagmittag tritt dann CSU-Chef Markus Söder vor die Presse: Wenn sich nichts mehr ändere, sagt er, dann werde die CSU gegen die Wahlrechtsreform klagen. "Wir bewerten das als eine Attacke auf die Demokratie", sagt Söder. Und: "'One man, one vote' gilt nicht mehr in Deutschland."
- Zum Artikel: FAQ zur Wahlrechtsreform: Die Pläne im Einzelnen
Grundgesetz sieht Gleichheit der Wahl vor
"One man, one vote": Das ist einer der Grundsätze des Deutschen Wahlsystems, abgeleitet aus Artikel 38 des Grundgesetzes. Darin heißt es: "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt."
Gleich ist die Wahl dabei, wenn einerseits alle Stimmen gleich viel zählen. Es darf also keine Stimme zum Beispiel doppelt gewichtet werden. Andererseits müssen auch alle Stimmen die gleiche Aussicht auf Erfolg haben – also die gleiche Auswirkung auf die Zusammensetzung des Bundestags. Ob das nach der Wahlrechtsreform noch gegeben ist, darüber wird diskutiert.
Zweitstimme bestimmt Zahl der Sitze
Der Vorschlag von SPD, Grünen und FDP sieht vor, die Zahl der Abgeordneten auf 630 zu deckeln. Derzeit sitzen 736 Abgeordnete im Bundestag. Gewählt werden sollen die Abgeordneten - wie bisher - mit zwei Stimmen. Mit der Erststimme sollen Wähler einen Direktkandidaten in ihrem Wahlkreis bestimmen. Mit der Zweitstimme wählen sie eine Partei. Der Unterschied liegt nun darin, dass nur noch die Zweitstimme ausschlaggebend dafür ist, wie viele Sitze eine Partei erhält. Der Gewinner in einem Wahlkreis zieht nur dann in den Bundestag ein, wenn seine Partei auch ausreichend Zweitstimmen hat. Zweitstimmendeckung nennt sich dieses Prinzip.
Direktmandat verliert an Gewicht
"Das Direktmandat wird entwertet", kritisiert Stefanie Schmahl, Professorin für öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Würzburg. "Und damit natürlich auch der Wille des Volkes." Denn: Ein Kandidat könne zwar seinen Wahlkreis gewinnen, aber trotzdem nicht in den Bundestag einziehen.
Tatsächlich könnte das durch die Reform in mehreren Fällen passieren, wie sich anhand der CSU gut zeigen lässt. Bei der vergangenen Wahl hatte sie deutschlandweit 5,2 Prozent der Stimmen erhalten. Demnach hätten ihr – bei einer Größe von 630 Abgeordneten – 38 Sitze im Bundestag zugestanden. Allerdings hat die CSU 45 Wahlkreise in Bayern gewonnen. Nach den bisherigen Regelungen hat sie die Differenz, sieben Sitze, als Überhangmandate erhalten. Nach der neuen Regelung wären die sieben Direktkandidaten mit den schlechtesten Ergebnissen in ihrem Wahlkreis nicht in den Bundestag eingezogen. Auch die anderen Parteien würden auf diese Weise Sitze verlieren.
Verstoß gegen das Gleichheitsgebot?
"Ich halte das für einen Gleichheitsverstoß", sagt Philipp Austermann, Professor für Staats- und Verfassungsrecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Er rechnet vor: Ein Kandidat könne seinen Wahlkreis mit 50 Prozent oder mehr gewinnen und trotzdem leer ausgehen, weil seiner Partei die nötigen Zweitstimmen fehlten. Ein Kandidat, der hingegen nur knapp gewinne, könne in den Bundestag einziehen, wenn seine Partei auch die Zweitstimmen erhalten habe. "Für diese Ungleichbehandlung bei den Direktmandaten gibt es keinen Grund", so Austermann.
Verfassungswert oder politisches Ziel?
Ausnahmen vom Gleichheitsgrundsatz gibt es im deutschen Wahlsystem schon lange. Die Fünf-Prozent-Hürde ist ein Beispiel, denn durch sie bleiben Stimmen für kleine Parteien unberücksichtigt. Notwendig für solche Ausnahmen ist allerdings immer ein zwingender Grund. Die Fünf-Prozent-Hürde wird etwa damit gerechtfertigt, dass der Bundestag arbeitsfähig bleiben soll. "Die Größe des Bundestages ist aber kein Verfassungswert, sondern eine politische Vorgabe", meint Philipp Austermann mit Blick auf die Vorschläge zur Wahlreform.
Kein Anspruch auf einen Sitz im Bundestag
Uwe Volkmann, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt sieht das anders. "Die Verkleinerung des Bundestags ist ein Ziel, in dem alle Beteiligten letztlich übereingestimmt haben", sagt er. Das wolle die Ampel erreichen, indem sie konsequenter auf ein Verhältniswahlrecht umstellt. Dafür müsse eben ein Preis gezahlt werden und der sei, dass nicht mehr alle siegreichen Wahlkreisbewerber in den Bundestag einziehen könnten. Außerdem sagt er: "Es gibt keinen Anspruch eines erfolgreichen Wahlbewerbers, in den Bundestag einzuziehen." Deswegen gebe es auch kein Problem mit der Verfassung. Allerdings: "Dass die Grundmandatsklausel wegfällt, darüber müsste man noch einmal reden", sagt er.
Grundmandatsklausel soll wegfallen
Die Grundmandatsklausel ist eine Sonderregelung im bisherigen Wahlrecht. Sie sieht vor, dass Parteien, die eigentlich an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert wären, auch dann gemäß ihres Zweitstimmenanteils in den Bundestag einziehen, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewonnen haben.
Die jüngsten Pläne der Ampel-Parteien sehen nun vor, diese Sonderregelung zu streichen, was massive Folgen vor allem für die Linke und womöglich auch die CSU hätte.
Vor allem Linke und CSU betroffen
Denn die Linke sitzt derzeit nur aufgrund dieser Sonderregelung im Bundestag. Bei der vergangenen Wahl 2021 hatte sie bundesweit zwar nur 4,9 Prozent der Stimmen erhalten, aber drei Direktmandate gewonnen. Sie stellt deswegen nun 39 Abgeordnete. Ohne die Klausel wäre die Linke nicht mehr im Bundestag vertreten.
Und auch die CSU müsste zittern. Sie hat zwar bundesweit noch nie weniger als fünf Prozent der Stimmen erhalten. Bei der vergangenen Wahl war es aber knapp. 5,17 Prozent war ihr Endergebnis. Sollte die CSU einmal unter die fünf Prozent rutschen, würde sie aus dem Bundestag fliegen – selbst wenn sie, wie in den vergangenen Jahren, zahlreiche Wahlkreise gewonnen hätte.
Grundmandatsklausel als Ausnahmeregelung
Für Staatsrechtler Philipp Austermann ist das unverständlich. "Das ist also eine krasse Verschlechterung, nicht nur für die CSU, auch für die Linke und andere kleinere Parteien", sagt er. Und es verkehre den Demokratiegrundsatz, nach dem eigentlich Erfolg haben müsste, wer eine Mehrheit erlangt. Allerdings: Gegen die Verfassung verstößt die Regelung nicht zwangsweise. Uwe Volkmann sagt, es gehe vielmehr um "politische Fairness".
Denn: Die Grundmandatsklausel war schon immer nur eine Ausnahmeregelung. Das Bundesverfassungsgericht hat 1997 entschieden, dass sie in das Wahlrecht aufgenommen werden dürfe – aber nicht müsse. Vor wenigen Wochen waren es vor allem auch Sachverständige von CDU und CSU, die sich dafür ausgesprochen haben, die Grundmandatsklausel aus dem ersten Vorschlag der Ampel-Parteien zu streichen.
Bundestag soll abstimmen
Dass die Ampel-Parteien den Vorschlag nun noch einmal ändern werden, ist unwahrscheinlich. Morgen wollen sie das Vorhaben in den Bundestag einbringen. Nach CDU und CSU haben nun auch die Linken angekündigt, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Der Ausgang: Ungewiss.
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