Stehen Klimaaktivisten der Gruppe "Letzte Generation" irgendwo in Deutschland vor Gericht, kommt es schon mal vor, dass der eine oder andere Angeklagte fehlt - weil er oder sie wegen weiterer Vergehen in München in Präventivgewahrsam sitzt. Erst am Montag war das laut SWR bei einem Prozess in Stuttgart der Fall, wo ein Mann für Straßenblockaden in Abwesenheit zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Hohe Wellen schlägt nun aber der Fall eines Aktivisten, der aus ganz anderen Gründen seinem Prozess in Stuttgart fernblieb: weil er mit seiner Freundin nach Südostasien geflogen ist. Er soll im vergangenen Jahr die B10 in Stuttgart blockiert haben.
Dass ausgerechnet ein Klimaaktivist rund 9.000 Kilometer im Flugzeug zurücklegte, sorgt insbesondere in den sozialen Netzwerken und Medien für reichlich Empörung und auch Spott. "Prozess geschwänzt für den Badeurlaub: Klima-Kleber fliegen nach Bali!", schrieb die "Bild"-Zeitung, bei "Focus Online" lautete die Überschrift: "Doppelmoral der Aktivisten: Klima-Kleber schwänzen Gerichtstermin, um nach Bali zu fliegen."
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Viel Kritik aus der CSU
Politiker mehrere Parteien kommentierten auf Twitter solche Berichte. "Pfui. Erst fürs Klima auf die Straße kleben, dann mit dem Flieger Badeurlaub in Bali. Was für eine verkommenen Doppelmoral", twitterte der oberfränkische AfD-Bundestagsabgeordnete Tobias Matthias Peterka. Der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestags, Michael Grosse-Brömer (CDU), schrieb: "Das ist jetzt ein schlechter Witz, oder? #heuchelei." Der bayerische FDP-Landeschef Martin Hagen spottete: "Die Klima-Pharisäer von der 'Letzten Generation': Erst Pendlern den Weg zur Arbeit blockieren, dann schön in den Urlaub nach Bali jetten. Man gönnt sich ja sonst nichts!"
Besonders zahlreich sind die Reaktionen aus der CSU. "Was für eine unglaubliche Doppelmoral!", ärgerte sich beispielsweise CSU-Generalsekretär Martin Huber. "Fliegen ist für die Klima-Kleber so lange schlecht, bis sie selbst im Flugzeug nach Bali sitzen." Der CSU-Verteidigungsexperte im Bundestag, Florian Hahn, schrieb: "An Flughäfen ankleben, aber selbst in den Urlaub Langstrecke fliegen." Nach Meinung des Augsburger CSU-Bezirksvorsitzenden Volker Ullrich schrumpft der moralische Anspruch der "Letzten Generation" zur Doppelmoral. "Ohne Worte!", twitterte der bayerische Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) und sein Parteichef und Ministerpräsident, Markus Söder, staunte: "Das ist wirklich unglaublich…"
Klimaaktivisten bestätigen Langstreckenflug
Die "Letzte Generation" reagierte am Morgen mit einer Pressemitteilung und bestätigte die Fernreise des Aktivisten. "Ein Mensch, der gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen demonstrierte, sollte am Dienstag in Stuttgart vor Gericht stehen. Mit dem Gericht abgesprochen, blieb er diesem fern." Er befinde sich aktuell nicht in Bali, sondern in Thailand, "um dort mit seiner Freundin viele Monate zu bleiben".
Eine gewisse Irritation lässt auch die "Letzte Generation" durchblicken: "Natürlich können wir nachvollziehen, dass negative Gefühle ausgelöst werden – gerade bei ökologisch bewusst lebenden Menschen –, wenn Protestierende der Letzten Generation in ein Flugzeug steigen. Vielen von uns geht es so." Nach Meinung der Klimaaktivisten haben Kritiker nun "ein Haar in der Suppe gefunden".
Bali-Reisende haben sich mittlerweile entschuldigt
Mittlerweile haben die beiden Bali-Reisenden selbst Fehler zugegeben. In einem Beitrag für die "taz" schreiben sie: Statt von Deutschland aus nach Südostasien zu fliegen, hätten sie Zug, Bus und Flugzeug kombinieren müssen.
"Mit Zug und Bus wäre nicht in München Schluss gewesen, wir hätten in den Iran gekonnt und erst dort in ein Flugzeug steigen können." Leider sei das durch die momentanen Proteste im Iran und deren brutale Niederschlagung und Unterdrückung für die Rückreise nun absolut nicht möglich. "Aber es ist problemlos möglich, aus der Türkei ohne Flugzeug nach Deutschland zu kommen." Der Flug in die Türkei werde "der letzte unseres Lebens".
"Letzte Generation" holt zum Gegenangriff aus
Den Doppelmoral-Vorwurf der Kritiker weist die "Letzte Generation" nach der Kritik indirekt zurück. Individuelles Verhalten sei zwar nicht unwichtig, und politisches Engagement "gegen den Klimakollaps" gehe oft auch mit der Umstellung des eigenen Lebens einher. "Es ist jedoch keine Voraussetzung, dies zu tun. Insbesondere beeinflusst es auch nicht, wie richtig oder falsch Forderungen an die Bundesregierung sind." Auch Menschen, die Fleisch essen, Auto fahren oder Langstreckenflüge machen könnten für das Klima auf die Straße gehen.
Dafür wirft die "Letzte Generation" ihrerseits Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Doppelmoral vor. "Ist es keine Doppelmoral, 'Klimakanzler' zu sein und Lützerath abzubaggern?" Auch die CSU in Bayern nimmt die Gruppierung ins Visier: "Ist es keine Doppelmoral, Klimaschutz wichtig zu finden, aber in Bayern keine Windkraftanlagen haben zu wollen? (...) Das Rasen auf den Autobahnen als Freiheit zu sehen, eine Freiheit, für die andere mit ihrem Leben bezahlen müssen?" Die "Letzte Generation" lade alle ein, den Blick voneinander ab- und dem "wirklich Wichtigen" zuzuwenden.
Unfreiwillig in den Twitter-Trends
Eigentlich gehört es zu den erklärten Zielen der "Letzten Generation" mit Aktionen "Spannung zu erzeugen und die Diskussion darüber zu entfachen", wie ein Sprecher im Dezember im BR24-Interview sagte. Dabei verstoßen die Aktivisten regelmäßig gegen Gesetze. Besonders viel Wirbel lösten in den vergangenen Monaten Straßen- und Flughafenblockaden sowie Klebe-Attacken auf Kunstwerke aus.
Aber auch mit dem Langstreckenflug eines ihrer Aktivisten ist es es der Gruppierung gelungen, eine lebhafte Diskussion zu entfachen - wenn auch unfreiwillig. Zur Top fünf der Twitter-Trends zählten am Mittag auch "Bali", "Doppelmoral" und "Letzte Generation".
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