Flyer mit dem Stempel "Veraltet": Hier werden überholte Zitate von Wissenschaftlern aus dem Zusammenhang gerissen
Bildrechte: Bild: BR

Foto des Flyers mit der Desinformation zu Grippe und Covid-19

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Corona-Verharmloser nutzen veraltete Experten-Zitate

Corona-Verharmloser und PCR-Test-Kritiker berufen sich auf Infektiologen und Virologen. Allerdings benutzen sie dabei häufig veraltete Zitate, um falsche Behauptungen aufzustellen oder Zweifel zu schüren. Ein #Faktenfuchs mit drei Beispielen.

Seit dem ersten Corona-Fall in Deutschland im Januar 2020 kann die ganze Gesellschaft mitverfolgen, wie Wissenschaft arbeitet:

Seit dem ersten Corona-Fall in Deutschland im Januar 2020 kann die ganze Gesellschaft mitverfolgen, wie Wissenschaft arbeitet: Erste Annahmen werden aufgestellt, überprüft, zum Teil wieder verworfen, zum Teil bestätigt. Nächste Schritte bauen darauf auf. Dadurch entwickelt sich Wissen weiter. Aber es bedeutet auch, dass frühere Erkenntnisse zu SARS-CoV-2 mittlerweile überholt und veraltet sind.

  • Alle aktuellen Faktenfuchs-Artikel finden Sie hier.

Entsprechend können Zitate von Wissenschaftlern heute widerlegt sein, die vor einigen Monaten noch den bis dahin verfügbaren Wissensstand erklärten. Das Problem: Solche Aussagen werden heute häufig aus ihrem Zusammenhang - nämlich dem damaligen Wissensstand - gerissen und von Corona-Verharmlosern als noch immer gültig verbreitet. Das kann viele Menschen erreichen, die auf der Suche nach Informationen sind - und es kann sie verunsichern. Der #Faktenfuchs zeigt das an drei Beispielen.

Veraltete Aussage des Infektiologen Wendtner zu Covid-19 und Grippe

Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie der München Klinik Schwabing, behandelte Anfang 2020 die ersten Covid-19-Patienten Deutschlands. Im Dezember fand er in seinem Briefkasten einen Flyer, in dem er mit der zehn Monate alten Aussage zitiert wird, dass Corona auf keinen Fall gefährlicher sei als Influenza. Als Quelle wird ein Artikel auf BR24.de angegeben. Damals hatten ihn BR24 und andere Medien aus einer Meldung der Nachrichtenagentur dpa vom 6. Februar 2020 zitiert.

Zwar ist die Aussage richtig wiedergegeben und sie stammt von Wendtner. Aber heute ist die Erkenntnislage eine andere - eine gegenteilige: "Ich habe bereits wiederholt – auch in verschiedenen Medien - gesagt, dass das Coronavirus SARS-CoV-2 deutlich gefährlicher ist als das Influenzavirus", erklärt Clemens Wendtner im Gespräch mit dem #Faktenfuchs. Das gelte sowohl für die Ansteckungsgefahr, weil in der Bevölkerung noch keine Grundimmunität vorhanden ist, als auch für den klinischen Krankheitsverlauf und die Sterblichkeit. Die Sterberate bei Covid-19 liege in Deutschland bei etwa 1,0 Prozent, für Influenza bei 0,1 bis 0,2 Prozent. "Das ist eine Steigerung bei Covid-19 um den Faktor 10", so Wendtner. "Und das trotz der Lockdown-Maßnahmen, die wir bei der Influenza nicht haben."

  • Mehr vom #Faktenfuchs, warum Covid-19 gefährlicher ist als Grippe gibt es hier und hier.
Bildrechte: BR Bild / BR Grafik
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Infektiologe Wendtner und der Flyer, der veraltete Zitate als aktuell verbreitet

Wie kommt es zu den unterschiedlichen Aussagen?

Im Februar 2020 war der Wissensstand noch ein anderer. In Deutschland hatte es da erst einige Infektions- und Krankheitsfälle mit leichten Verläufen gegeben. "Und die Informationen aus China waren dürftig", sagt Wendtner. Auch dass Corona keine reine Lungenkrankheit ist, sondern alle Organe betreffen kann, war damals noch nicht bekannt. Die zum Teil schwerwiegenden Spätfolgen waren hierzulande noch nicht aufgetreten.

Dass seine veraltete Aussage auf einen aktuellen Flyer gedruckt wird, bezeichnet der Chefarzt als "eine bewusste Täuschung". Auch Kollegen Wendtners, die in derselben Gegend wohnen und seine Einstellung kennen, waren überrascht. "Drei Kollegen haben mich angerufen und sagten: 'Da läuft was schief'", erzählt Wendtner.

Der Flyer, der auch die falsche Behauptung verbreitet, RNA-Impfstoffe veränderten Menschen genetisch, trägt keinen Absender und kein Impressum. Der Text enthält aber auch neue Quellenangaben von Ende November 2020. Das spricht dafür, dass das veraltete Zitat zum Thema "Grippe und Corona" bewusst verwendet wurde.

Frühere Aussage von Christian Drosten zum PCR-Test

Der in Deutschland bekannteste Virologe ist Christian Drosten. Er leitet das Institut für Virologie des Berliner Krankenhauses Charité. Leser und Leserinnen mailten dem #Faktenfuchs schon mehrfach einen Abschnitt aus einem alten Interview in der "Wirtschaftswoche". Es stammt aus dem Jahr 2014.

Bildrechte: BR Bild / Screenshot WiWo / BR Grafik
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Virologe Drosten und ein Artikel 2014, der heute noch oft verbreitet wird, ohne dass die verschiedenen Kontexte deutlich gemacht werden

Darin sagt Drosten über den PCR-Test: "(...) Die Methode ist so empfindlich, dass sie ein einzelnes Erbmolekül dieses Virus nachweisen kann. Wenn ein solcher Erreger zum Beispiel bei einer Krankenschwester mal eben einen Tag lang über die Nasenschleimhaut huscht, ohne dass sie erkrankt oder sonst irgend etwas davon bemerkt, dann ist sie plötzlich ein Mers-Fall. Wo zuvor Todkranke gemeldet wurden, sind nun plötzlich milde Fälle und Menschen, die eigentlich kerngesund sind, in der Meldestatistik enthalten." Ob symptomlose oder mild Infizierte wirklich Virusträger seien, so heißt es weiter in dem Interview von damals, halte Drosten für fraglich. Noch fraglicher sei, ob sie das Virus an andere weitergeben können. Dies war, wie erwähnt, die wissenschaftliche Einschätzung Drostens im Jahr 2014.

Diese Aussagen werden nun verwendet, um Kritik am PCR-Test zu üben. 2014, so heißt es zum Beispiel in einer Mail an den #Faktenfuchs, habe Drosten in dem Interview noch "die Wahrheit" über den PCR-Test gesagt. Und heute? Wir gehen dieser Frage nach.

Interview von 2014 zum Ausbruch von MERS auf der arabischen Halbinsel

Die Aussage Drostens ist mehr als sechs Jahre alt und bezog sich auf einen Ausbruch des MERS-Coronavirus im Frühjahr 2014 auf der arabischen Halbinsel. Im Interview erklärt Drosten, dass bis dahin als MERS-Fall gemeldet worden sei, wer unter anderem an einer Lungenentzündung litt, bei der beide Lungenflügel betroffen waren. Die Ärzte in Dschidda hätten sich aber entschieden, Ärzte, Patienten und das Krankenhauspersonal auf den Erreger zu testen und hätten dazu eine hochempfindliche Methode gewählt, die Polymerase-Kettenreaktion (PCR). Eine Methode, die Drosten später auch für den SARS-CoV-2-Test zugrunde legte.

Die PCR-Tests gelten als die genaueste zur Verfügung stehende Methode und können nur in Fachlaboren durchgeführt werden.

PCR-Test ist eine empfindliche Methode

Es ist nicht so, dass Drosten 2014 "die Wahrheit" über den PCR-Test gesagt hätte und heute nicht mehr. Denn nach wie vor stellt der Virologe dar, dass die PCR (Polymerase-Kettenreaktion) "sehr empfindlich" sei, etwa im Vergleich zu den Antigen-Schnelltests.

Eine Arbeitsgruppe um Drosten entwickelte vergangenes Jahr den spezifischen PCR-Diagnostiktest für das SARS-CoV-2-Virus. Wie die Charité in ihrem FAQ erklärt, bauen die Schritte in der Labortestung so aufeinander auf, dass möglichst keine Infektion mit SARS-CoV-2 übersehen wird und der Test gleichzeitig möglichst nicht auf Infektionen mit anderen Viren anschlägt.

Nicht jeder Infizierte ist ansteckend

Dass nicht jeder positiv Getestete ansteckend ist, ist unbestritten. Schwierig ist es allerdings zu sagen, wo die Schwelle liegt. Um ganz sicher zu sein, ob eine positiv getestete Person ansteckend ist, müsste eine Probe im Labor kultiviert werden, das heißt, Viren müssten über mehrere Tage angezüchtet werden. Das ist aufwändig, sowohl zeitlich als auch hinsichtlich der Sicherheitsvorkehrungen. Bis ein Ergebnis vorliegt, wäre der Betreffende womöglich gar nicht mehr ansteckend - der Zweck der zeitaufwändigen Probe im Labor wäre also hinfällig.

Forscher weltweit haben laut Charité zeitgleich mit PCR getestet und Viren angezüchtet. Das Ergebnis fasst die Klinik so zusammen: "Im Zusammenspiel mit weiteren Studien weisen diese Untersuchungen darauf hin, dass die per PCR ermittelte Viruslast im Nasen-Rachen-Raum mit der Fähigkeit des Patienten einhergeht, andere Menschen anzustecken."

Wissensstand: Auch Symptomlose können Virus weitertragen

Insofern sagt der PCR-Test durchaus etwas darüber aus, wie ansteckend eine positiv auf Corona getestete Person ist. Und hier kann das alte Zitat von 2014 nicht mehr zur Erklärung der aktuellen Pandemie hergenommen werden. Denn es ist aktueller Wissensstand, dass auch Infizierte ohne oder mit wenig Symptomen das Virus weitertragen können. Mit dieser Erkenntnis hat zum Beispiel das Robert-Koch-Institut (RKI) die Empfehlung zum Masketragen im öffentlichen Raum begründet. Der "Drosten-Test" von 2020 trifft über den CT-Wert Aussagen über die Infektiosität.

Zur Erklärung des CT-Werts: Für den Coronatest werden Proben aus dem Rachen- oder Mund-und-Rachenraum genommen, die gegebenenfalls Teile des Erbguts (RNA) des Erregers enthalten. Im Labor werden diese Erbgut-Teile in mehreren Zyklen von Erhitzung und Abkühlung vervielfältigt und sichtbar gemacht. Ist die Viruslast hoch, braucht es wenige Zyklen für den Nachweis: der CT-Wert ist niedrig. Ist hingegen die Viruslast niedrig, braucht es mehr Zyklen, um das Virus sichtbar zu machen und der CT-Wert ist entsprechend hoch. CT steht für "cycle threshold".

Das Drosten-Interview aus dem Jahr 2014 kursiert in Kritikerkreisen schon länger. Der ARD Faktenfinder hatte Vorwürfe im Oktober aufgegriffen und widerlegt.

Bildrechte: Screenshot Facebook / BR Grafik
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Screenshot eines alten Videos mit dem Virologen Bassetti

Veraltete Aussage des italienischen Virologen Matteo Bassetti

In Italien ist Matteo Bassetti, Direktor des Universitätsklinikums Ospedale San Martino in Genua, ein sehr bekannter Virologe. Im März hatte sich auf Youtube ein Interview mit Bassetti verbreitet, in dem er sagte, dass in Italien elf Menschen mit Corona gestorben seien, die alle Vorerkrankungen gehabt hätten. Das Video wurde damals mit dem Abspann versehen, dass Corona "Quatsch" sei - es wurde also impliziert, die Menschen seien nicht an Covid-19 gestorben.

Aber: Das Video war nicht im März aufgenommen worden, die Aussage Bassettis war älter. Wie die Faktenchecker von Correctiv überprüften, waren die Todeszahlen, die Bassetti zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung der Aufnahme am 26. Februar verwendete, richtig. Aber zu dem späteren Zeitpunkt, als es in den Kontext von Verharmlosung gestellt und erneut in Umlauf gebracht wurde, waren sie überholt. Am 15. März zählte Italien laut WHO bereits 1.441 Corona-Tote

Fazit

Corona-Verharmloser reißen häufig Aussagen von renommierten Virologen und Infektiologen aus dem zeitlichen Kontext, um sie für ihre Zwecke zu verwenden. So kursiert zum Beispiel die veraltete, vom Wissensstand überholte Aussage des Münchner Infektiologen Clemens Wendtner zu einer Falschbehauptung über den Vergleich von Grippe und Corona. Auch alte Aussagen des Virologen Christian Drosten und des in Italien bekannten Virologe Matteo Bassetti wurden wieder in Umlauf gebracht, um den PCR-Test zu diskreditieren beziehungsweise Corona zu verharmlosen. Desinformation möchte damit den Anschein bekommen, wissenschaftlich belegt und seriös zu sein.

"Darüber spricht Bayern": Der neue BR24-Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!