"Ein Fehler zu viel": Staatssekretär Graichen muss gehen
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Sitzung des Wirtschaftsausschusses des Bundestages

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"Ein Fehler zu viel": Staatssekretär Graichen muss gehen

Lange hielt Bundeswirtschaftsminister Habeck an seinem umstrittenen Wirtschaftsstaatssekretär Graichen fest - jetzt muss er doch gehen. Anlass dafür sind neu aufgetauchte Ungereimtheiten, wie Habeck sagte. Graichen habe sich zu angreifbar gemacht.

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Nach neuen Ungereimtheiten zieht Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) im Fall seines Staatssekretärs Patrick Graichen die Reißleine. Graichen habe sich in der Gesamtschau zu angreifbar gemacht, um sein Amt noch wirkungsvoll ausüben zu können, sagte Habeck bei einem kurzfristig einberufenen Pressestatement in Berlin. Daher solle sein Staatssekretär in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Es gehe darum, das Vertrauen in die Arbeit des Ministeriums zu schützen. Habeck kündigte an, die Nachfolge zügig zu klären.

Im Zuge interner Prüfungen seien zwei Sachverhalte aufgetaucht, zu denen ihm seit Dienstagabend die Prüfergebnisse vorlägen, erläuterte der Minister. Dabei sei es um den Umgang mit einem Förderantrag des BUND-Landesverbandes Berlin sowie um die Besetzung einer Expertenkommission gegangen. Die Fehler seien unterschiedlich gravierend, jeder für sich allein würde "eine solch dramatische Konsequenz" nicht nötig machen. Aber sie seien in der Gesamtschau zu sehen. Die "Compliance-Brandmauer", die wegen der Verwandtschaftsverhältnisse gezogen worden sei, habe nun Risse bekommen. "Es ist der eine Fehler zu viel."

Habeck: Anschein der Parteilichkeit nicht vermieden

Graichen hatte dem Minister zufolge Ende November unter anderem ein Projekt des BUND-Landesverbands Berlin als förderwürdig eingestuft. Die Fördersumme von knapp 600.000 Euro sei zwar noch nicht geflossen, die finale Förderentscheidung sei aber im Prinzip nur noch eine reine Formsache gewesen. Allerdings sei Graichens Schwester Vorstandsmitglied des BUND-Landesverbands Berlin und habe früher sogar an dessen Spitze gestanden. "Insofern ist es, wie die tiefere Prüfung zeigt, als Compliance-Verstoß zu bewerten."

Die entsprechende Vorlage hätte laut Habeck dem Staatssekretär weder vorgelegt werden dürfen, noch hätte er sie abzeichnen dürfen. "Es muss schon allein der Anschein der Parteilichkeit vermieden werden. Und das ist hier nicht eingehalten worden."

In einem "Graubereich" liege eine Personalie bei der Besetzung der Expertenkommission zum Energiewende-Monitoring, schilderte der Grünen-Politiker weiter. "Auch hier kommt nun die vertiefte Prüfung, die mir seit gestern vorliegt, zu dem Schluss, dass der Anschein der Parteilichkeit besser hätte vermieden werden sollen."

"So dürfen politische Debatten nicht ausarten"

Der Minister würdigte zugleich die "große Leistung" Graichens für Deutschland. "Er hat durch seinen überaus großen Einsatz Deutschland vor einer Gasmangellage bewahrt und maßgeblich dazu beigetragen, eine Wirtschaftskrise abzuwenden." Er habe die Energiewende wieder flottgemacht. "Dafür danke ich ihm ausdrücklich."

Graichen sei in den vergangenen Wochen "über das berechtigte Maß an Kritik und Aufklärung" hinaus angefeindet worden. Dass über seine Familie - mitunter von rechtsextremen Accounts - Lügen verbreitet und von prorussischen Accounts weiter gepusht worden seien, sei unerträglich, kritisierte Habeck. "Das macht mir große Sorgen." Der Minister fügte hinzu: "So können und so dürfen politische Debatten nicht ausarten." Habeck verwahrte sich darüber hinaus "explizit gegen die pauschalen Anwürfe gegenüber meinem Haus und dem Leitungsbereich".

Scholz: Gut mit Graichen zusammengearbeitet

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reagierte zurückhaltend auf Habecks Entscheidung. Er sei "heute" darüber informiert worden und habe das zur Kenntnis genommen, sagte der Kanzler am Rande des Gipfeltreffens des Europarats in der isländischen Hauptstadt Reykjavik auf Nachfrage. "Mit Herrn Graichen selbst habe ich gut zusammengearbeitet und ich gehe davon aus, dass der Wirtschaftsminister jetzt seine Arbeit mit voller Kraft fortsetzt."

FDP: "Grüner Familienfilz" hat ein Ende

Bayerns FDP-Landeschef Martin Hagen, der auch dem Bundesvorstand der Liberalen angehört, sprach von einer richtigen Entscheidung Habecks. "Sie kommt vielleicht ein bisschen sehr spät", sagte Hagen BR24. "Es ist für die Koalition gut, dass dieser grüne Familienfilz jetzt ein Ende hat." In den vergangenen Wochen habe sich der Eindruck aufgedrängt, dass Graichen im Wirtschaftsministerium ein "sehr enges persönliches Netzwerk gesponnen" habe. Dieser Eindruck müsse jetzt ausgeräumt werden. "Denn es ist nicht Aufgabe eines Ministers, persönliche Freunde oder Verwandte in einem Ministerium zu installieren."

Union fordert weitere Aufklärung - AfD attackiert Habeck

Nach Meinung von CDU-Generalsekretär Mario Czaja ist Graichens Ausscheiden richtig und überfällig. Endlich ziehe Habeck Konsequenzen, sagte Czaja der Deutschen Presse-Agentur. "Denn die Vorwürfe gegen seinen engsten Vertrauten wiegen schwer. Sie werfen weitere Fragen nach den Abläufen im Wirtschaftsministerium auf." Es brauche nun vollständige Transparenz. Seilschaften und Vetternwirtschaft müssten restlos aufgeklärt werden.

Ähnlich äußerte sich CSU-Generalsekretär Martin Huber: Das Aus für Graichen sei unausweichlich gewesen und komme viel zu spät. Mit dem Festhalten an seinem "Filz-Staatssekretär" habe Habeck dem Ansehen seines Ministeriums und der gesamten Bundesregierung schweren Schaden zugefügt. "Es bleibt der Eindruck eines grünen Selbstbedienungsladens im Wirtschaftsministerium." Der CSU-Politiker forderte eine weitere Aufarbeitung des "grünen Sumpfs".

Für AfD-Bundestagsfraktionchefin Alice Weidel kann Habecks Entscheidung nur der erste Schritt sein. Auf Twitter schrieb sie: "Zwar mag Graichen zurückgetreten sein, die Ursache für die Versumpfung des Wirtschaftsministeriums hat einen anderen Namen: Habeck. Vor allem er sollte umgehend die Konsequenzen ziehen!"

Vetternwirtschaft-Vorwürfe gegen Graichen

Graichen war wegen der Vergabe eines Spitzenpostens bei der bundeseigenen Deutschen Energie-Agentur (Dena) an einen engen Bekannten in der Kritik geraten. Die Stelle wurde zunächst dem früheren Berliner Grünen-Politiker Michael Schäfer zugesprochen. Graichen, der in der Findungskommission saß, machte aber nicht transparent, dass Schäfer sein Trauzeuge war.

Mittlerweile wurde ein neues Besetzungsverfahren gestartet. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Graichen selbst bezeichneten das Verhalten Graichens in der Angelegenheit Fehler. Die Opposition forderte immer wieder Graichens Entlassung.

Mit Informationen von dpa und AFP.

Archivbild: Graichen und Habeck
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