Seit langem platzt der Bundestag aus allen Nähten: Alle vier Jahre ziehen immer noch mehr Abgeordnete ins Parlament ein. Aktuell sitzen dort 736, so viele wie noch nie. Im März hat der Bundestag deshalb eine Kommission einberufen, die sich um eine Reform des Wahlrechts kümmern soll. Die Obleute dieser Wahlrechtskommission, die Ampel-Koalitionäre Sebastian Hartmann (SPD), Till Steffen (Grüne) und Konstantin Kuhle (FDP), haben nun einen Vorschlag vorgestellt, wie der Bundestag verkleinert werden kann.
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Ampel-Vorschlag: Künftig drei Kreuzchen statt nur zwei
Dem Vorschlag zufolge sollen die Wähler zukünftig nicht mehr zwei, sondern drei Stimmen bei der Bundestagswahl haben: Die Erst- und Zweitstimme bleibt wie früher, hinzu kommt aber eine Ersatzstimme. Die soll als Ergänzung zur Erststimme fungieren: Mit ihr sollen die Wähler den Direktkandidaten wählen, den sie am zweitliebsten als Vertreter ihres Wahlkreises sehen würden. Das Ziel dahinter: Eine Partei soll nur so viele Direktmandate durch die Erststimme bekommen, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen.
Nicht mehr alle Wahlkreis-Gewinner bekämen ein Mandat
Das soll dann so funktionieren: Gewinnt eine Partei mehr Wahlkreise als das Ergebnis der Zweitstimmen vorgibt, bekommt sie für die Wahlkreise, in denen ihre Erststimmenergebnisse am schwächsten sind, die Direktmandate nicht. Diese Wahlkreise gehen dann an eine andere Partei – die bestimmen die Wähler mit der Ersatzstimme. Damit würden nicht mehr automatisch alle Wahlkreis-Gewinner ein Bundestagsmandat bekommen.
Bundestag soll immer 598 Abgeordnete haben
So würde es in Zukunft keine Überhangmandate mehr geben – und weil bei deren Wegfall dann nichts mehr ausgeglichen werden muss – auch keine Ausgleichsmandate. Das bedeutet, dass der Bundestag stets die gesetzlich vorgesehene Größe haben würde: 598 Mandate. Alle 299 Wahlkreise blieben erhalten.
Wahlrechtsänderung in Koalitionsvertrag verankert
Die drei Ampel-Koalitionäre halten solch eine tiefgreifende Wahl-Reform für dringend notwendig: "Wir zeigen hier, dass wir als Ampel handlungsfähig sind und, dass wir ganz klar auch das abarbeiten, was wir im Koalitionsvertrag versprochen haben", so Till Steffen (Grüne). SPD, Grüne und FDP hatten im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass sie bereits innerhalb des ersten Jahres das Wahlrecht überarbeiten wollen. Konstantin Kuhle (FDP) sagt: "Mit dem Durchwurschteln der vergangenen Jahre kommen wir nicht weiter." Gäbe es in dieser Legislaturperiode keine Einigung, wäre der Ansehensverlust groß. Das sorge für Frust am gesamten politischen System. Es brauche ein "modernes Wahlrecht", bekräftigt auch Sebastian Hartmann (SPD). Schließlich habe sich die Parteienlandschaft im Vergleich zu früher verändert, viel mehr Parteien säßen jetzt im Parlament.
Union vermutet taktische Gründe hinter Ampel-Vorstoß
Empört über den Ampel-Vorschlag ist die Union – sie wäre bei dieser Reform der große Verlierer. CDU und CSU profitieren wegen ihrer guten Erststimmenergebnisse traditionell stark von Überhangmandaten. Die würden mit dem Ampel-Vorschlag ganz wegfallen.
Für den Nürnberger Abgeordneten Michael Frieser, zugleich Justiziar der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, steckt dahinter eine taktische Absicht der Ampel-Parteien: "Die Ampel würde gerne in den Großstädten die Gewinner der Direktmandate aussortieren. Statt einem Unions-Abgeordneten würde dann einer von ihnen zum Zug kommen." Die Union fährt in den Großstädten üblicherweise schlechtere Erststimmen-Ergebnisse ein als im ländlichen Raum. Dadurch würden die Direktkandidaten der Union in den Städten wohl häufig den Kürzeren ziehen, weil sie im Vergleich zu den Unions-Ergebnissen ländlicherer Wahlkreise schlechter abschneiden würden, so Frieser. Der Kandidat der Ersatzstimme, also eine andere Partei, würde in den Bundestag einziehen.
CSU: Wahlreform-Vorschlag zu kompliziert
Alexander Hoffmann aus Marktheidenfeld (CSU), der selbst Mitglied der Wahlrechtskommission im Bundestag ist, sieht noch ein weiteres Problem: "Der Vorschlag ist derart kompliziert, dass kein Wähler am Ende mehr durchblickt, was er letztendlich mit seiner eigenen Stimme im Ergebnis bewirken kann." Außerdem zeige das Vorpreschen der Ampel, dass sie kein Interesse an einem parteiübergreifenden Ergebnis zu haben scheint. Denn dafür gebe es die Kommission samt ihren Sachverständigen, so Hoffmann.
Verfassungsrechtliche Bedenken
Auch verfassungsrechtlich ist nicht alles ganz klar: Zwar haben die drei Ampel-Koalitionäre mehrere Verfassungsrechtler bei ihrem Vorschlag miteinbezogen, betonen sie – Bedenken seien deshalb unbegründet. Anders sieht das aber Verfassungsrechtler Philipp Austermann von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl: "Ich halte den Vorschlag für verfassungswidrig, die Ersatzstimme ist eine Entwertung der Erststimme." Es sei eine Ungleichbehandlung der Wählerstimmen, wenn manche Wahlkreiskandidaten kein Direktmandat zugeteilt bekommen, obwohl sie es eigentlich gewonnen haben. Außerdem wüssten die Wähler beim Abstimmen nicht, welche ihrer beiden Stimmen – die Erst- oder die Ersatzstimme – nachher wirklich zählt.
Austermann fürchtet auch, dass die Reform weitere Folgen nach sich ziehen könnte: Kandidaten in den Städten könnten keinen Sinn mehr in einer Direktkandidatur sehen, weil sie sowieso keine Chance auf ein Mandat hätten, und würden dann lieber auf die Landesliste ausweichen.
Einfache Mehrheit reicht für Wahlrechtsreform
Die Ampel kann ihren Vorschlag im Bundestag mit einfacher Mehrheit durchsetzen, eine Änderung der Verfassung braucht es nicht. Die Ampel-Koalitionäre rechnen damit, dass ihre Reformidee nach dem Sommer in ein Gesetzesvorhaben geht. Die Dringlichkeit einer Wahlrechtsreform besteht schon seit Jahren, hier sind sich alle einig, Regierung wie Opposition: Denn jeder zusätzliche Abgeordnete plus Mitarbeiter kostet Steuergeld und braucht Platz im Parlament.
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