Ein Schwarzweiß-Foto aus dem Jahr 1932 zeigt russische Soldaten, die ganze Berge von Weizensäcken von ukrainischen Landwirten in Beschlag genommen haben. Holodomor nannte man die Hungersnot, die damals in der Ukraine ausgelöst wurde. 90 Jahre später gibt es eine Neuauflage dieses Bildes: Russische Lastwagen, gekennzeichnet mit dem Kriegssymbol Z, sind darauf zu sehen. Sie sollen vollgeladen sein mit Getreide aus der Südukraine, das sie in Richtung Krim transportieren.
Der Hunger in der Welt steigt
Die Strategie scheint also dieselbe zu sein: Hunger als Waffe. Anders als damals trifft es heute aber nicht "nur" den direkten Kriegsgegner, sondern nahezu die ganze Welt. Denn: die Ukraine gehört zu den größten Exporteuren von Weizen. Der Hafen von Odessa beliefert die Welt. Normalerweise. Jetzt sind er und viele andere blockiert. Die fehlenden Weizenexporte aus Russland und der Ukraine heizen den weltweiten Getreidemarkt gefährlich auf. Die Preise für Brotweizen haben sich im Vergleich zum Vorjahr zeitweise mehr als verdoppelt.
Das ist auch ein Problem für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen. Denn auch die internationale Organisation bezog zwölf Prozent der globalen Kost aus Russland und der Ukraine. Die schlimmsten Auswirkungen spüren schon jetzt jene Regionen der Welt, die besonders von Getreideimporten abhängig sind: der Nahe Osten und Teile Afrikas. "Und so sehen wir eine Explosion der Zahlen der Menschen, die wirklich akut ernährungs-unsicher sind", erklärt Dr. Martin Frick vom UN World Food Programme (WFP).
150 Millionen Menschen mehr gelten als ernährungsunsicher
Vor zwei Jahren waren das noch 126 Millionen Menschen, im Januar 2022 zählten bereits 276 Millionen als ernährungsunsicher – und jeder Tag, den dieser Krieg länger dauere, würden es noch mehr, so der Direktor des WFP in Berlin. Durch die weltweite Inflation und die Preissteigerung beim Weizen braucht es nun mehr Geld, da mehr Menschen versorgt werden müssen.
Aber der WFP denkt auch langfristig und deshalb wird ein Ziel intensiv verfolgt: Um Länder gerade in Krisenzeiten ernährungssicher zu machen, müsse viel mehr lokal angebaut werden. Dafür müssten Strukturen gestärkt und landwirtschaftliches Land wieder nutzbar gemacht werden.
Ukrainische Landwirte produzieren weiter – trotz Krieg
Und was ist mit den Landwirten? In der Ukraine ist die Lage für sie und ihre Arbeiter prekär: Im Frühjahr musste gesät werden – dabei war Diesel knapp und Kampfhandlungen oft nicht weit entfernt. Der Landwirtschaftsminister rief dringend dazu auf, die Feldarbeit trotzdem zu erledigen. Leichter gesagt als getan. Dennoch haben es die ukrainischen Bauern geschafft, auf 80 Prozent der Fläche auszusäen.
Kritisch ist aber derzeit, ob sie die Ernte auch einbringen können – schon alleine, weil mittlerweile häufig Streumunition oder Raketenteile auf den Feldern liegen. Zudem sind die Lager noch voll: 20 Millionen Tonnen Getreide sind noch in den Silos und müssen dringend abtransportiert werden, um Platz zu machen für die neue Ernte: für 30 bis 40 Millionen Tonnen zusätzlich, die dann auch exportiert werden müssten. Wie das funktionieren soll, ist noch unklar.
Was können deutsche Landwirte tun?
Die ausfallenden ukrainischen Weizenexporte werfen die Frage nach dem Kurs der Landwirtschaft in Deutschland neu auf. Der fränkische Biobauer Martin Ritter, der auch große Ackerflächen in der Ukraine bewirtschaftet, ist sich sicher: Grundsätzlich müsse sich die Einstellung gegenüber der Landwirtschaft in der Bevölkerung ändern. "Wir ernähren die Leute, das vergessen sie alle", sagt er in DokThema.
Zwischen Hungersnot, Verteuerung und Klimakrise
Aber auch die sich immer mehr verschärfende Klimakrise darf in dieser Situation nicht aus dem Blick geraten. Eigentlich haben die europäischen Länder erkannt, dass Klimaschutz wichtig ist. Darum wurde der Green Deal für Klimaschutz und Artenvielfalt zur Agrarwende beschlossen. Aber jetzt ist Krieg, Getreide ist knapp und die Frage stellt sich: Brauchen wir etwa die Wende von der Agrarwende – also weniger Ökologie, mehr Intensivierung?
Getreide auf den Teller statt in den Trog
Bei dieser Diskussion geraten besonders Betriebe, die Fleisch produzieren, in den Fokus. Fast 60 Prozent des Getreides wird in Deutschland an Tiere verfüttert. Die Forderung lautet, die Tierhaltung deutlich zu reduzieren, statt den Getreide-Anbau zu intensivieren - nach dem simplen Motto "Getreide auf den Teller statt in den Trog".
Dabei erleben Tierhalter wie Johannes Scharl, der Ferkel erzeugt, ohnehin eine Krise nach der anderen. Ruinöse Preisentwicklung und zugleich stärkere Herausforderungen seitens der Politik und Gesellschaft. 2017 baute er beispielsweise einen neuen Stall für höhere Tierwohl-Standards, den er nun abbezahlen muss. Den Tierbestand kann er deshalb jetzt nicht reduzieren. Doch er muss laut Agrarpolitik im kommenden Jahr vier Prozent seiner Flächen stilllegen – so fehlt ihm Futter für seine Tiere. Die Schweine von Johannes Scharl werden in der Diskussion als "Futterkonkurrenten" der Menschen bezeichnet. Das trifft den Landwirt auch persönlich.
Brachflächen reaktivieren
Im Rahmen des "Green Deal" gibt es auch jetzt schon ökologische Vorrangflächen, darunter viele Brachflächen. In einigen EU-Ländern wurden sie für den Weizenanbau freigegeben und umgebrochen. Der Bayerische Bauernverband erklärt, so könnten in diesem Jahr 170.000 Hektar allein in Deutschland zusätzlich genutzt werden.
Agrarminister Cem Özdemir hat aber nur erlaubt, dass der Aufwuchs dieser Flächen als Futter eingesetzt werden darf. Ackerbau mit Pflanzenschutz und Düngung bleibt verboten. Der Minister setzt sich dafür ein, dass in Brüssel eine neue Regelung zum Fruchtwechsel ausgesetzt wird, damit die Bauern mehr Weizen produzieren können. Aber Weizenanbau auf Weizenanbau ist nicht auf allen Böden machbar, darum sind manche Landwirte von dem Vorschlag enttäuscht.
Teller statt Tank
Es gäbe aber noch eine Möglichkeit, mehr Ackerfrüchte auf den Tisch zu bringen – indem man sie aus der Energiegewinnung rausnimmt. Getreide und Ölsaaten wie Raps von deutschen Feldern wandern nämlich auch in den Tank, in Form von Biosprit.
Hier soll der Anteil an Biokraftstoff, der Benzin und Diesel beigemischt wird, zunächst gesenkt und dann ganz abgeschafft werden, so ein Vorschlag des Bundesumweltministeriums. So könnten rund 1,1 Millionen Hektar Anbaufläche in Deutschland zum Nahrungs- oder Futtermittel-Anbau verwendet werden. Aber im Vergleich zu den riesigen Getreide-Mengen, die normalerweise aus der Ukraine und Russland kommen, ist das noch immer sehr wenig.
"Bei der Frage nach Tank, Trog und Teller sage ich Teller zuerst! Wir müssen die Flächenkonkurrenz zu Lasten der Lebensmittelerzeugung endlich auflösen." Cem Özdemir
Putin: Weizen aus der Ukraine nur gegen Aufhebung von Sanktionen
Die Nahrungsmittelsicherheit weltweit bleibt weiter in Gefahr. Und Putin macht zuletzt in einem Telefonat mit Frankreichs Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz klar: Den Weizen aus der Ukraine gibt es nur gegen Aufhebung von Sanktionen.
Die Welt ist in der Zwickmühle. Putins Krieg gegen die Ukraine ist neben der humanitären Katastrophe auch ein Kampf um lebenswichtige Grundnahrungsmittel.
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