Am Morgen des 29. Oktober 1972 – also 7 Wochen nach dem Olympia-Attentat – wird LH615 auf dem Flug von Beirut nach München gekapert. Die palästinensischen Entführer forderten im Austausch mit den Flugzeug-Geiseln die Freilassung der drei in Bayern inhaftierten überlebenden Olympiaattentäter. Gerd Maier saß damals als junger Co-Pilot im Cockpit.
"Ich dreh mich um und kuckte also schon in eine Pistole und da stand der Entführer. In der anderen Hand eine entsicherte Handgranate. Uns hat er nur gesagt, er ist jetzt der Kapitän des Fluges und der heißt jetzt 'Munich Operation'." Gerd Maier, Co-Pilot
Die Maschine ist auffallend leer - keine Frauen, keine Kinder
Die LH615 Lufthansa-Maschine "Kiel" ist auffallend leer: Nur 13 Passagiere auf 200 Plätze. Und unter den Passagieren sind keine Kinder, keine Frauen. Nur ein Zufall? Obwohl es Sonntag ist, versammelt sich innerhalb kürzester Zeit ein Krisenstab im Bundeskanzleramt. Die Regierung geht überraschend schnell auf die Forderungen ein – ohne Rücksprache mit Israel. Gegen Mittag stehen alle drei überlebenden Olympiaattentäter am Flughafen München Riem bereit.
Der Verdacht schon damals 1972: War die Freipressung inszeniert? Wussten die Deutschen vorab von der Flugzeugentführung? Wollte Deutschland ein öffentliches Gerichtverfahren vermeiden?
Brief über "Abschiebung" – 11 Tage vor der Flugzeugentführung
Im Staatsarchiv München findet sich einen Brief des Polizeipräsidenten – verfasst 11 Tage vor der Flugzeugentführung. Es geht um die "eventuelle Abschiebung der drei festgenommenen Araber" und die Voraussetzungen ihrer Freilassung: "Um die mit der Abschiebung verbunden Formalitäten (…) beschleunigen zu können, hat das Amt für öffentliche Ordnung bereits Ausweisungsverfügungen erlassen, die bei der Kriminalpolizei verwahrt werden." (Quelle: StA 17470)
Freilassung? Abschiebung? Offiziell sollen die Attentäter doch vor Gericht kommen. Die Übergabe der drei Olympiaattentäter erfolgt dann auf dem Rollfeld in Zagreb. Mit den Geiseln und den Olympiaattentätern ging es weiter nach Tripolis.
Auch Co-Pilot Gerd Maier hatte den Eindruck, dass vieles bei dieser Flugzeugentführung vorbereitet war. Bei der Landung in Tripolis wartete ein offizielles Empfangskomitee.
"Da war dann schon tiefe Nacht, wir sind dann aufs Vorfeld gerollt und dort abgestellt und die Attentäter wurden mit einem Mercedes abgeholt, das muss ja alles vorbereitet sein. Wusste keiner, dass wir nach Tripolis fliegen, wir durften die Information nicht weitergeben als wir noch unterwegs waren." Gerd Maier, Co-Pilot
Die Lufthansa-Entführung – ein abgekartetes Spiel?
Wir recherchieren weiter – und stoßen in England auf Akten des britischen National-Archivs. Hier hat das britische Außenministerium seine Korrespondenz mit der britischen Botschaft in Tripolis abgelegt. Dort dokumentiert: Ein Gespräch mit dem deutschen Botschafter in Tripolis vom Oktober 1972. Darin heißt es wörtlich: "…die Deutschen hatten vorab Kenntnis davon, dass am 30. Oktober etwas passieren würde." Und weiter: "… in Tripolis hatte man seit 15 Tagen auf die Entführung der Lufthansa Maschine gewartet." (Quelle: National Archives UK)
Palästinensische Hintermänner stehen in Tripolis bereit als die LH615 "Kiel" landet. Und sie haben sogar eine nächtliche Pressekonferenz organisiert.
Die Lufthansa-Entführung – ein abgekartetes Spiel? Vieles spricht dafür – und nichts dagegen. Der spätere Pressesprecher der Polizei in München, Walter Renner, war 1972 Streifenpolizist. Zufällig hatte er am Tag der Flugzeugentführung Dienst. Er eskortierte die drei palästinensischen Attentäter mit einem Polizeiauto zum Flughafen in München-Riem.
Was wusste man in Polizeikreisen?
Erstmals erzählt Walter Renner nun im Interview mit report München und dem ARD-Studio Tel Aviv von dieser Zeit. Er habe schon Tage vorher von der Freipressung erfahren – in Polizeikreisen habe man gewusst, dass etwas passieren würde.
"Das war nicht aus heiterem Himmel. Ich habe das schon gewusst, über Unteroffiziersdrähte, da hat einer von der Kriminalpolizei gesagt, über kurz oder lang findet das statt." Walter Renner, ehem. Streifenpolizist
Wollte Deutschland durch die Freilassung ein öffentliches Gerichtverfahren vermeiden? Das zumindest meint Ankie Spitzer, die Witwe des in München ermordeten israelischen Fechttrainers Andrei Spitzer. Sie wirft den deutschen Behörden nicht nur Schlamperei vor, sondern sieht im Verhalten der Bundesregierung eine Verschleierungstaktik, Spitzer wörtlich:
"Um das eigene Versagen zu vertuschen war es die beste Möglichkeit die Attentäter schnell loszuwerden. So konnte man eine echte Aufarbeitung vermeiden." Ankie Spitzer, Witwe des in München ermordeten israelischen Fechttrainers Andrei Spitzer
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