Im Januar 2021 findet der Hausmeister des 1. FC Nürnberg zufällig 15 verstaubte Kisten in einem verlassenen Keller des Vereins. Er geht zu Club-Archivar Bernd Siegler und fragt den Historiker, ob er sich deren Inhalt einmal anschauen könnte.
"Und da hab ich den ersten Karton aufgemacht, da war dann der Name Aal und der Stempel '30. April 1933 bei Austritt'", so Bernd Siegler. Ihm war klar, dass das ein jüdisches Mitglied sein musste. Der Club hatte deren Ausschluss am 27. April 1933 beschlossen. Bei den Kartons handelte es sich um die Gesamtkartei der Mitglieder von 1928 bis 1955, inklusive der kompletten Kartei zur Zeit des Nationalsozialismus, erzählt Siegler. Ein außergewöhnlicher Fund! Denn bisher war von allen Fußballvereinen der Ersten und Zweiten Bundesliga nur Hertha BSC im Besitz der Mitgliederdaten aus der Zeit des Nationalsozialismus.
Die Basis für das Buch "Heulen mit den Wölfen" war der Fund von 15 Kartons mit den Karteikarten der FCN-Mitglieder von 1922 bis 1955.
Der Autor und Journalist, der sich schon Jahrzehnte mit den Themen Nationalsozialismus, Rechtsextremismus und Fußball befasst, kannte dieses Datum "30. April 1933" schon von einem zweiten Zufallsfund, den er in den 1990er-Jahren im New Yorker Leo Baeck Institute gemacht hatte: Dort lagern Dokumente des Juristen Franz Anton Salomon. Wie sich zeigte, ab 1930 jüdisches Club-Mitglied. "Weil dort nämlich der Brief, den der 1. FCN am 28. April 1933 an seine jüdischen Mitglieder geschickt hat und ihnen mitgeteilt hat, du bist jetzt nicht mehr länger Clubmitglied, wir werfen dich raus, dort noch erhalten war.“
Franz Anton Salomon und der Schock des Rauswurfs
Salomon war 1934 über Italien nach Belgien geflüchtet, wurde nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in französische Internierungslager gebracht, konnte fliehen, kam über Trinidad in die USA. Er studierte Jura, wurde ein führender Steuerrechtler. Er stirbt in den 1980ern. "Und was hat er aufgehoben bis zum Schluss? Dieses Schreiben vom FCN, in dem ihm mitgeteilt wird, dass er nicht mehr Clubmitglied sein kann“, so Siegler. Wie die Recherchen zeigen, war der Rauswurf aus dem Verein nicht nur für Salomon ein geradezu traumatisches Erlebnis.
142 jüdische Leben sollen ihre Geschichte zurückbekommen
Siegler fand unter den 12.000 Karteikarten 142 Mitglieder, die Ende April 1933 den Verein verlassen mussten. Er überprüfte ihre Daten im Melderegister des Stadtarchivs und sah seine Vermutung bestätigt: 96 Sportler und 46 Sportlerinnen mussten den 1. FCN damals verlassen, weil sie jüdischen Glaubens waren. Der Jüngste war der 6-jährige Helmuth Nattenheimer, der älteste Kommerzienrat Stefan Hirschmann, 59 Jahre alt. Er sehe es als seine Aufgabe diesen Menschen ein Gesicht, eine Geschichte zu geben und sie wieder zu integralen Bestandteilen des Vereins zu machen, so Siegler. So stehen die Biografien dieser 142 jüdischen Mitglieder farbig unterlegt im Zentrum des Buches.
Es waren Bankiers, Firmenbesitzer, Schüler, Studenten, Kaufleute, Ärzte, ganze Familien, die sich bewusst den erfolgreichen, bürgerlichen 1. FC Nürnberg als Verein ausgesucht hatten, um sich in der Mitte der Gesellschaft zu etablieren. Die dort ihre Freizeit verbrachten und einen sozialen Mittelpunkt in der Tennisabteilung, der Leichtathletik, im Fußball oder Handball fanden und so an der deutschen Mehrheitsgesellschaft teilhaben wollten, so der Autor. Ihre Religionszugehörigkeit war für ihr Vereinsleben bis zum Rauswurf von keinerlei Bedeutung.
Der 1. FCN und sein Verhältnis zu den Nationalsozialisten
Dass sich der Club als Sportverein im April 1933, nur Wochen nach der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler, ihrer so entledigte, traf sie hart. Der Club war damit laut Siegler neben dem 1. FC Kaiserlautern einer der ersten Fußballvereine, der seine jüdischen Mitglieder ausschloss, "in vorauseilendem Gehorsam", wie Siegler feststellt. Dabei habe sich der Verein den Nationalsozialisten insgesamt aber ambivalent gezeigt, so habe der Club noch internationale Spiele bestritten, als das bei den Nazis schon als verpönt galt.
Der historische Rahmen
Um die Biografien der 142 jüdischen Mitglieder in den historischen Kontext zu stellen, befasst sich das Buch auch in zwei Teilen detailliert mit den politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der Zeit. Es beleuchtet die Situation der jüdischen Bevölkerung, die Entwicklung des Fußballs und des 1. FC Nürnberg als damaligem Rekordmeister – und welche wichtige Rolle jüdische Akteure in diesem Zusammenhang spielten. Es erläutert das Verhalten der Vereinsführung während und nach der NS-Herrschaft. Es stellt die spezielle Situation Nürnbergs als Stadt der Reichsparteitage und "Heimat" des antisemitischen Nazi-Hetzblattes "Der Stürmer" dar und welchen Einfluss dies auf den Verein hatte.
Im Museum des 1. FC Nürnberg Thema: der Club in der NS-Zeit. Eine besonders furchtbare Rolle spielte das antisemitische Hetzblatt "Der Stürmer".
142 Menschen – 142 völlig unterschiedliche Lebensläufe
Sehr sachlich und deshalb beim Lesen oft umso schmerzhafter, ist der Mittelteil den 142 Biografien der ausgeschlossenen jüdischen Mitgliedern gewidmet. Ihre Leben könnten nicht unterschiedlicher verlaufen sein. Einige emigrierten in die USA, nach England oder Israel. Sie machten zum Beispiel als Komponistin, Wissenschaftler oder Malerin bemerkenswerte Karrieren. Andere konnten im Ausland bürgerliche Existenzen aufbauen und Familien gründen. Wie Bernd Siegler schreibt, endete für 13 jüdische ausgeschlossene Clubmitglieder das Bleiben in Deutschland oder die Flucht mit dem Tod. Zehn von ihnen kamen in ein Konzentrationslager, nur einer von ihnen überlebte: der Kaufmann Walter Seefried Rothschild.
Yvonne Rothschild über ihren Vater Walter
Über sein Leben und das seines Bruders Otto erfuhr Bernd Siegler mehr, weil er Walters Tochter Yvonne in Berlin ausfindig machen konnte. Sie erzählte ihm, wie gern ihr Vater beim Club war und dass er nach seinem Ausschluss zu einem jüdischen Sportverein nach Fürth wechselte. Während sein Bruder Otto sich als Patriot freiwillig zur Wehrmacht meldete und in Luxemburg an der Front fiel, wurde Walter wohl eher zum Militärdienst genötigt.
Als er 1944 auf Fronturlaub war, wurde er von der Staatspolizei verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Er überlebte. Mit seiner Frau hatte er drei Kinder und eröffnete zunächst in Erlangen den Stoffladen "Reste Ecke". Später trennte sich das Paar und Walter zog nach Nürnberg. "Und ich erinnere mich, dass er jedes Wochenende zum Fußball ging, weil er glühender FCN-Fan war", erinnert sich Yvonne. "Mein Vater war ein optimistischer Mensch, der immer das Positive sah. Das habe ich, glaube ich von ihm."
Gegen das Vergessen
Das Buch bedeutet Yvonne Rotschild viel und sie ist dankbar dafür, dass es Menschen gibt, die sich dafür einsetzen, an die jüdischen Schicksale zu erinnern. Es sei heute leider wichtiger denn je, die Gräueltaten der Nationalsozialisten nicht zu vergessen. Mit "Heulen mit den Wölfen" ist es Bernd Siegler und dem 1. FC Nürnberg gelungen, einen großen Beitrag dazu zu leisten.
Das Buch "Heulen mit den Wölfen – Der 1. FC Nürnberg und der Ausschluss seiner jüdischen Mitglieder" von Bernd Siegler ist im Starfruit Verlag, Fürth erschienen und kostet 28 Euro.

Clubarchivar Bernd Siegler im Museum des 1.FCN. Über die Geschichte des Vereins in der NS-Zeit hat er "Heulen mit den Wölfen" geschrieben.
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