"Für 4 Engel" steht auf dem Schild für vier verstorbene Kinder an einem der Obstbäume.
Bildrechte: BR/ Judith Zacher

"Für 4 Engel" steht auf dem Schild für vier verstorbene Kinder an einem der Obstbäume.

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Wenn Kinder in Bäumen weiterleben - Erinnerungswald bei Wemding

Ein Ort, um zu trauern, in der Natur, mit Menschen, die das gleiche Schicksal haben. Das ist der Erinnerungswald bei Wemding. Eltern, die ein Kind verloren haben, können hier einen Baum pflanzen. Der Bedarf ist groß.

Über dieses Thema berichtet: Mittags in Schwaben am .

Vor gut zwei Jahren hat Anna Maria Böswald im Erinnerungswald bei Wemding ihre ersten beiden Bäumchen gepflanzt - für ihre verstorbenen Zwillinge. Bei der ersten Pflanzaktion waren es knapp 20 Bäume, erinnert sich die Vorsitzende vom Verein Sterneneltern Schwaben e.V., die Eltern von Sternenkindern gepflanzt haben. Dass es nur zwei Jahre später 144 Bäume sein würden und die Wiese damit komplett bepflanzt sein würde, das hatte sie sich nicht gedacht.

Für jedes Kind ein Baum, eine Sorte

Anna Maria Böswald lässt den Blick über die Wiese schweifen. In Reihen stehen hier die 144 Apfel- und Birnbäume, jede Sorte gibt es nur ein Mal. Jeder Baum so einzigartig wie das Kind, für das er wächst. "Es macht sprachlos", sagt Anna Maria Böswald. "Wenn man nicht nur die Bäume sieht, sondern auch bedenkt, dass jeder Baum für mindestens ein verstorbenes Kind steht."

Ein Ort des Trostes für die Eltern

Auch Sonja und Sascha Busack wollen an diesem winterlichen Tag ihr Bäumchen besuchen. Sonja Busack hat ein kleines weihnachtliches Kränzchen dabei und eine Laterne mit einem Licht. Den Herbstschmuck nimmt sie vorsichtig ab, hängt stattdessen den Kranz an einen Zweig des Baums. Ein Apfelbaum, Sorte Cox Orange. Gepflanzt haben die beiden ihn vor eineinhalb Jahren, für Noel und ihr Sternchen. Zwei Kinder hat Sonja Busack verloren, Sternenkinder. Begriffe wie Fötus oder gar nur eine Zahl lehnt Sascha Busack ab: Es ist immer ein Kind, egal wie alt, sagt der Vater.

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Dieser Ort hier, das sei anders als auf dem Friedhof. Ungezwungener, in der Natur, hier dürfe der Baum wachsen, wie er wolle, die Natur Natur sein. "Das gibt mehr Wärme als auf dem Friedhof, es ist auch Freude mich dabei", sagt der Vater. Auf dem Arm hat er seinen kleinen Sohn. Noch ist er ein Baby. Irgendwann aber werden sie ihm erklären, warum sie zu diesem Baum gehen und an wen er sie erinnert. Sie werden offen damit umgehen, da sind sich die beiden einig. Das war nicht immer so.

Fehlgeburten sind oft Tabuthema

Sonja Busack zeigt auf einen Baum ein paar Reihen weiter hinten: "Der ist von meiner Mama. Das wäre meine Schwester geworden." Für ihre Mutter sei das damals sehr schlimm gewesen. 1986 wurde über Themen wie Fehlgeburten oder früh verstorbene Babys nicht gesprochen. Alpträume habe ihre Mutter gehabt und niemanden, mit dem sie darüber reden konnte. Erst jetzt, als ihr das auch passiert sei, sagt Sonja Busack, habe sie sich öffnen können.

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Noch heute wird das Thema von vielen gemieden. Diese Erfahrung macht auch Anna Maria Böswald. Sie begleitet Eltern, die ihr Kind vor oder bei der Geburt verloren haben. Sie ist für sie da, hört ihnen zu. Sie selber hat drei Kinder verloren. Viele hätten sich nach dem Tod ihrer Zwillinge von ihrem Mann und ihr abgewendet, erzählt sie. Erst jetzt, als sie ein gesundes Baby zur Welt gebracht hat, wären viele wiedergekommen. Als würde dieses Baby das Geschehene ungeschehen machen. "Wenn man nach so vielen Schicksalsschlägen ein Kind bekommt, das lebt, dann ist das ein Geschenk, ein ganz wunderbares Geschenk. Aber kein Ersatz für die verstorbenen Geschwisterkinder", sagt sie und Sonja Busack nickt. Ihre verstorbenen Kinder wird sie nie vergessen, sie leben für sie symbolisch weiter, in diesem Baum.

Eltern verstorbener Kinder bei ihren Obstbäumen im Erinnerungswald bei Wemding.
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Eltern verstorbener Kinder bei ihren Obstbäumen im Erinnerungswald bei Wemding.

Erinnerungswald ein Ort für offene Gespräche

Auch Eric Lux hat einen Baum gepflanzt, einen Birnbaum. Heuer habe er erstmals zwei Früchte getragen. Die habe er mit nach Hause genommen: "Aber ich konnte sie nicht essen, das war ganz seltsam" sagt er, sichtbar ergriffen. "Dieser Baum wird ewig die Früchte unserer Liebe tragen". Vor vier Jahren ist seine Tochter Lana Sophie gestorben. Völlig unerwartet, plötzlich, an einer Gehirnblutung. Am Abend seien sie noch bei Freunden beim Grillen gewesen, am Morgen war sie tot. Erst habe er sich komplett verschlossen in seiner Trauer. Hier im Erinnerungswald aber treffe er auf Menschen, die ein ähnliches Schicksal hätten. Mit ihnen könne er sich gut austauschen, sagt Eric Lux, viel besser als mit einem Therapeuten oder Trauerbegleiter. So sind die Bäume hier für alle Eltern da, die ein Kind verloren haben - egal in welchem Alter.

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Alexandra Herz hat vier Kinder bereits in einem sehr frühen Stadium der Schwangerschaft verloren. Für sie hat sie einen Baum gepflanzt, kommt oft hierher. Dass sie noch einmal schwanger werden würde und ein gesundes Kind zur Welt bringen würde, daran hatte sie nicht mehr geglaubt. Und dann ist es doch passiert, erzählt sie überglücklich. Inzwischen sei ihre kleine Tochter sechs Jahre alt.

"Baum der kleinen Seelen" als neuer Ort für die Sternenkinder

Die Wiese am Waldrand bei Wemding ist mittlerweile voll bepflanzt. Dennoch fragen weiter Eltern an, ob es noch Platz gibt. Deshalb hat Anna Maria Böswald eine neue Idee für die Eltern, die keinen Platz für ein Bäumchen mehr bekommen haben. In der Mitte der Wiese steht ein Ahorn - der "Baum der kleinen Seelen". Hier will sie ab dem Frühjahr kleine Holzfedern hinlegen, auf die Eltern den Namen ihres verstorbenen Kindes schreiben können, und diese dann an den Baum hängen. Wie schnell der Wald gewachsen sei, das zeige, wie hoch der Bedarf nach solchen Angeboten sei, sagt Anna Maria Böswald.

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