Die Situation ist neu: Fast 200 Jahre lang musste sich niemand Gedanken zum Thema Herdenschutz machen; Bär, Wolf und Luchs waren ausgerottet. Entsprechend verunsichert sind deshalb jetzt viele Weidetierhalter, sie wissen schlichtweg nicht, was genau sie tun sollen und warten ab. Vor wenigen Wochen erst hat der Bund Naturschutz nach einem Wolfsriss in der Oberpfalz beklagt, dass viele Tierhalter in Bayern keinen ordentlichen Herdenschutz betreiben.
Wolfspopulation wächst pro Jahr um 30 Prozent
Gleichzeitig wächst die Wolfspopulation – geschätzt um etwa 30 Prozent pro Jahr. Standorttreue Wölfe gibt es in neun Regionen Bayerns, allesamt nördlich der Donau. Durchs Alpenvorland ziehen immer wieder Einzelwölfe. Im Berichtsjahr 2020/2021 gab es in Bayern bei 14 Wolfsattacken 62 gerissene Nutztiere – meistens Schafe. Seit 2019 tappt im Landkreis Garmisch-Partenkirchen auch immer wieder ein Bär in die Fotofallen. Ob er oder ein anderer Bär für 15 gerissene Schafe nur wenige Meter hinter der Grenze in Tirol verantwortlich ist, wird noch überprüft. Fest steht, dass ein Bär die Tiere getötet hat.
Herdenschutz ist kompliziert
Alle Fachleute raten Landwirten und Hobbyhaltern deshalb, ihre Tiere zu schützen. Doch Herdenschutz ist komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht. Jede Weide ist anders, jede Herde, jeder Tierhalter. Eigentlich bräuchte es jeweils eine individuelle Beratung. Zuständig dafür sind die Landwirtschaftsämter. Denen wurde die Zusatzaufgabe vor zwei Jahren zugeteilt – mehr Personal haben sie aber nicht bekommen.
Individuelle Beratung bisher nicht möglich
Stefanie Morbach ist die bayerische Leiterin des EU-Projekts "LIFEstockProtect", das von Bioland, dem Bund Naturschutz und einem privaten Umweltbüro unterstützt wird. Die Agrarbiologin beklagt, dass die Behörden eine individuelle Beratung vor Ort gar nicht ausreichend leisten könnten. Entsprechend unterschiedlich seien die Ergebnisse. Gerade komplizierte Fälle blieben auf der Strecke. LIFEstockProtect bietet deshalb selbst Kurse zum Thema Herdenschutz an und möchte vor allem die Tierhalter untereinander vernetzen. Noch in diesem Sommer will aber auch die Landesanstalt für Landwirtschaft LfL drei sogenannte "Demo-Zentren" einrichten. Dort sollen dann zum Beispiel verschiedene Zaunsysteme ausgestellt und erklärt werden.
- Mehr zum EU-Projekt: LIFEstockProtect
Wichtig ist genügend Stromspannung auf dem Zaun
Laut Stefanie Morbach ist Herdenschutz auf ganz vielen Weiden in Bayern gut möglich – mit einem vertretbaren Aufwand. Es gibt zum Beispiel Netzzäune, die schon jetzt von vielen Schafhaltern genutzt werden. Oder es werden mehrere Zaunlitzen übereinander gespannt. Wichtig dabei: der Zaun muss hoch genug sein, also etwa 1,10 Meter, die unterste Litze darf maximal 20 Zentimeter vom Boden entfernt sein und der Zaun muss durchgehend gut mit Strom versorgt sein. Denn das Ziel ist, dass Wolf oder Bär einen ordentlichen Stromschlag bekommen, sobald sie sich einer Weide nähern und sie sich diese abschreckende Erfahrung dann auch merken.
Schafhalter Bernhard Zimmer erklärt auf der Weide bei Piding, wie ein wolfsabweisender Schutzzaun aussehen soll.
Schafe auf der Weide: "gefundenes Fressen" für den Wolf
Für die Herdenschutzfachfrau Morbach ist dieser präventive Herdenschutz besonders wichtig. Denn er vermeidet, dass Beutegreifer lernen, "sich sozusagen im Supermarkt zu bedienen". Denn natürlich ist es leichter, Schafe auf einer ungeschützten Weide zu erbeuten, als einem flüchtenden Reh im Wald nachzujagen.
Deshalb kritisiert Morbach, so wie viele Schafhalter auch, dass der Freistaat Bayern den Herdenschutz nur begrenzt unterstützt.
Zäune werden nicht überall gefördert
Die Kosten für den Bau eines wolfsabweisenden Zauns werden nur in den neun Gebieten bezuschusst, in denen Wölfe standorttreu sind (Radius 30 Kilometer). Außerdem an Orten, an denen ein Riss stattgefunden hat. Dann allerdings auch nur im Umkreis von zehn Kilometern und zunächst nur bis zum Ende des jeweiligen Kalenderjahres. Hält sich der Wolf nachweislich weiter in dem Gebiet auf oder werden weitere Nutztierrisse im Gebiet verzeichnet, kann die sogenannte "Förderkulisse" erweitert und verlängert werden. Ist das nicht der Fall, endet die Fördermöglichkeit.
Förderung wurde "gedeckelt"
Für den Alpenrand heißt das, dass auch hier vorbeugender Herdenschutz nicht bezuschusst wird. Einzige Ausnahme: einige Gebiete im Oberallgäu, weil es dort einen standorttreuen Wolf gibt, der über die Grenze zwischen Bayern und dem benachbarten Vorarlberg hin- und herpendelt. Innerhalb der sogenannten "Förderkulissen" wurden die Zaunbaukosten vom Umweltministerium anfangs zu 100 Prozent übernommen. Nachdem das von einigen Landwirten ausgenutzt worden war, um überteuerte "Luxus-Zäune" zu bauen, ist die Förderung jetzt gedeckelt. In Berggebieten gibt es für Festzäune 18 Euro und für mobile Zäune vier Euro Zuschuss – jeweils für den laufenden Meter.
Herdenschutz auf Almweiden nicht möglich?
An Grenzen stößt der Herdenschutz auf den Alm- und Freiweiden. Da sind die Tiere häufig auf sehr großen Flächen unterwegs – im Wettersteingebirge zum Beispiel verteilen sich die Schafe auf rund 2000 Hektar. Zudem ist das Gelände dort sehr steil, der Boden felsig, es gibt Gräben und Mulden – dort einen wolfsabweisenden Zaun zu bauen ist nahezu unmöglich. Aber auch den Einsatz von Hunden – in anderen europäischen Ländern ein klassischer Helfer im Herdenschutz – hält im bayerischen Alpenraum kaum jemand für praktikabel. Zu viele Naherholungssuchende und Touristen sind dort – oft noch mit einem eigenen Hund – unterwegs. Da sind Konflikte programmiert. Der verstärkte Einsatz von Hirten schließlich scheitert zum einen an den hohen Kosten, aber auch daran, dass man die Hirten erst einmal finden müsste.
Almbauern drohen Beweidung aufzugeben
Was heißt das für die Almbauern? Sie fühlen sich mit der Angst um ihre Tiere komplett unverstanden. Der Vorsitzende der Weidegenossenschaft Partenkirchen, Sepp Grasegger, argumentiert damit, dass der Wolf zwar vielleicht Teil der alpenländischen Natur ist, aber nicht zu der vom Menschen gemachten Kulturlandschaft passt. Deshalb drohen er und seine Kollegen damit, die Beweidung der Almen ganz aufzugeben.
Fatale Folgen für die Kulturlandschaft
Das wiederum hätte gravierende Folgen – zum einen für den Tourismus, noch mehr aber für die Ökologie. Denn viele der offenen Almweideflächen sind Hotspots der Biodiversität. Gäbe es keine Beweidung mehr, würden viele seltene Pflanzen verschwinden und mit ihnen die Tiere, die auf das offene Gelände angewiesen sind. In nur wenigen Jahren würde sich der Wald die bisherigen Almflächen zurückholen. Allerdings sind auch schon vor der Rückkehr des Wolfs Almen aufgegeben worden – weil sie einfach nicht mehr rentabel waren.
Erleichterter Abschuss rechtlich bisher nicht möglich
Für die Almbauern kommt deshalb nur eine Lösung in Frage, der Wolf soll leichter geschossen werden dürfen – oder wie es beschönigend heißt "entnommen" werden. Das aber ist mit dem aktuellen Rechtsstatus als "streng geschütztes Tier" nicht vereinbar. Alle Bemühungen der bayerischen Politik, den Abschuss zu erleichtern, sind bisher gescheitert. Für Herdenschutzexpertin Stefanie Morbach hat das eine mit dem anderen aber gar nichts zu tun.
"Problemwölfe" dürften geschossen werden
Schon jetzt sei es möglich, sogenannte "Problemwölfe" zu schießen. Dafür gäbe es exakte Kriterien. Und wenn stichhaltige Gründe für eine solche Maßnahme vorlägen, würde auch kein Naturschutzverband etwas dagegen tun. Ein Abschuss sei aber trotzdem kein Herdenschutz. "Ein geschossener Wolf frisst zwar keine Schafe mehr, er kann aber auch nicht verhindern, dass zwei Wochen später ein anderer Wolf kommt, der sich dann wieder auf die Weidetiere stürzt", so Morbach.
Zwei Lager: Wolfsliebhaber und Wolfshasser
Die Situation ist schwierig. Es haben sich regelrechte Lager gebildet. Schafzüchterin Gisela Badura aus Markt Schellenberg im Berchtesgadener Land erlebt das gerade so: "Allein die Verwendung bestimmter Wörter führt dazu, dass man in eine Schublade gesteckt wird: Wolfsliebhaber oder Wolfshasser." So sei das Wort "Wolfsmanagement" regelrecht verbrannt. "Wenn jemand sagt, in manchen Gegenden muss man vielleicht auch über ein effektives Wolfsmanagement nachdenken, dann machen viele schon den Haken hinter. Der will nur, dass alle Wölfe abgeschossen werden", sagt Badura.
Die Naturschutzbehörden schweigen
Während Bauernverband, Alm- und Alpwirtschaftliche Vereine den erleichterten Abschuss als einzige Lösung propagieren, schweigen die Naturschutzbehörden. Der zuständige Umweltminister Thorsten Glauber stellt sich der Diskussion mit den Weidetierhaltern nicht. Das ihm untergeordnete Landesamt für Umwelt – zuständig fürs Wolfsmanagement – verweist allenfalls auf den im Internet nachlesbaren "Aktionsplan Wolf". Wo der Wolf zugeschlagen hat, fühlen sich die Betroffenen allein gelassen.
Grassauer Resolution sucht konstruktive Lösung
Im Chiemgau hat der Gemeinderat von Grassau die Sache jetzt selbst in die Hand genommen und sich ausführlich mit der neuen Situation für die Weidetierhalter befasst. In einer über alle Parteigrenzen hinweg verfassten Resolution fordern die Grassauer eine Änderung der Förderrichtlinien hin zu mehr Prävention, vor allem aber: Wolfsberater vor Ort, die den Betroffenen zuhören. Bürgermeister Stefan Kattari sucht sachorientierte Lösungen, die den Weidetierhaltern wirklich helfen. Nur so werde der Wolf am Ende seinen Platz finden. "Das muss man aushandeln und es wird nur gelingen, wenn sich beide Seiten gut zuhören, mit der echten Bereitschaft, die andere Seite zu verstehen."
Landtagsausschuss: mehr Beratung ist unnötig
Die Grassauer Resolution hat es immerhin bis in den Landwirtschaftsausschuss des Landtags geschafft – um dort im April von der Regierungsmehrheit aus CSU und Freien Wählern abgeschmettert zu werden. Begründung: Mehr Beratung vor Ort - das braucht es nicht!
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