Seltene Einigkeit zwischen CSU und Linkspartei: Für Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sind die Ampel-Pläne zur Wahlrechtsreform ein "klarer Angriff", für CSU-Chef Markus Söder eine "Attacke" auf die Demokratie. Nachdem Söder schon am Montag verkündet hatte, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, folgte heute eine entsprechende Ankündigung von Bartsch. Stunden später zog dann der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz nach und drohte ebenfalls mit dem Gang nach Karlsruhe.
CSU und Linke laufen unter anderem Sturm gegen Pläne, die sogenannte Grundmandatsklausel abzuschaffen – denn ein solcher Schritt könnte für beide zur Folge haben, dem Bundestag irgendwann nicht mehr anzugehören. Die Klausel regelt, dass eine Partei auch mit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen in Fraktionsstärke in den Bundestag kommt, wenn sie mindestens drei Direktmandate geholt hat.
Die Linke profitiert aktuell davon: Bei der Bundestagswahl 2021 kam sie nur auf 4,9 Prozent der gültigen Zweitstimmen, holte aber drei Direktmandate – und stellt jetzt 36 Abgeordnete. Auch für die CSU wäre die Klausel die bundespolitische Lebensversicherung, sollte sie in Zukunft mal unterhalb der deutschlandweiten Fünf-Prozent-Hürde bleiben. Bisher ist das zwar noch nie passiert, 2021 lagen die Christsozialen mit 5,17 Prozent aber nur denkbar knapp darüber.
Grüne: Söders Kritik unglaubwürdig
Der bayerische Grünen-Landeschef Thomas von Sarnowski beklagt angesichts der scharfen Worte Söders eine Doppelmoral der CSU – und verweist auf das bayerische Wahlrecht. "In Bayern werden Direktmandate für den Landtag nur dann zugeteilt, wenn die Partei auf ausreichend Zweitstimmen kommt", schrieb er auf Twitter. Wenn nun Ähnliches im Bund eingeführt werden solle, dann sei es für Söder eine "Attacke auf die Demokratie". Damit vergreife sich der CSU-Chef massiv in seiner Wortwahl – zum Schaden der Demokratie. Solange Söder das bayerische Wahlrecht nicht ändern wolle, bleibe seine Kritik unglaubwürdig.
Das bayerische Landtagswahlrecht unterscheidet sich zwar wesentlich von der Regelung bei Bundestagswahlen, weil im Freistaat nicht allein die Zweitstimme die Sitzverteilung im Parlament bestimmt, sondern Erst- und Zweitstimme zusammengezählt werden. In der Tat aber steht in der Bayerischen Verfassung: "Wahlvorschläge, auf die im Land nicht mindestens fünf vom Hundert der insgesamt abgegebenen gültigen Stimmen entfallen, erhalten keinen Sitz im Landtag zugeteilt."
FDP: "Leben in zwei Realitäten"
Ähnlich wie von Sarnowski äußerte sich der FDP-Bundestagsabgeordnete und parlamentarische Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Benjamin Strasser: "Funfact: Was die CSU bei der Wahlrechtsreform nun mit der Abschaffung der Grundmandatsklausel als verfassungswidrig in Karlsruhe beklagen will, ist in Bayern geltendes Wahlrecht", twitterte er. "Sowas kann man wohl nur noch als Leben in zwei Realitäten bezeichnen."
Auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Schrodi verwies auf das Landtagswahlrecht im Freistaat: "Dort ziehen nur die Kandidatinnen und Kandidaten ein, deren Partei die Fünf-Prozent-Hürde überspringt. Was in Bayern richtig ist, kann im Bund sicher nicht falsch sein."
Merz: Wahlrecht richtet sich vor allem gegen CSU
Söder legte derweil mit Kritik am Ampel-Kompromiss nach, den er für verfassungswidrig hält. Er sei kein Anhänger der Linkspartei, "das können Sie sich vorstellen", sagte er nach einer Kabinettssitzung. Er habe als CSU-Chef auch schon dem Koalitionsausschuss der Bundesregierung angehört. "Aber auf die Idee, die Linke einfach per Wahlgesetz zu bekämpfen - auf die Idee wäre ich nicht gekommen", sagte der CSU-Chef. "Ich finde das schon einen sehr wuchtigen Schritt." Zugleich sieht Söder durch die Ampel-Pläne aber auch die Existenz seiner eigenen Partei "fundamental in Frage" gestellt. "Das ist schon ein dicker Hund."
CSU-Generalsekretär Martin Huber twitterte: "Die Bekämpfung der Opposition durch das Wahlrecht ist ein verfassungswidriger demokratischer Tabubruch." Die Ampel wolle Konkurrenten und direkt Gewählte aus dem Parlament drängen. Aus Berlin assistierte CDU-Chef Merz: "Dieses Wahlrecht richtet sich jetzt vor allem gegen die CSU." Und Linken-Politiker Bartsch wertete als "ein Unding", dass die CSU, die üblicherweise viele Direktmandate gewinne, nicht im Bundestag vertreten wäre, weil sie es nicht über die bundesweite Fünf-Prozent-Hürde schaffe. "Das hat mit Demokratie meines Erachtens nichts zu tun."
CSU-Politiker weisen Vergleiche mit Bayern zurück
Den Vergleich mit dem bayerischen Wahlrecht will Söder nicht gelten lassen. Es gebe in Bayern keine einzige Partei, die in den vergangenen 30 Jahren von dem entsprechenden Paragrafen betroffen gewesen sei. Jetzt aber drohe der CSU, dass sie bei einer Bundestagswahl die überragende Zahl von 46 Wahlkreisen gewinne – und alle Gewählten "praktisch nicht dabei sind". Stattdessen kämen Politiker anderer Parteien mit deutlich weniger Prozentpunkten ins Parlament. Damit würde das Wahlergebnis "komplett uminterpretiert", was undemokratisch sei.
Bayern würde so weitgehend von der deutschen Entwicklung abgeschnitten. "Ich bin mir sicher: Hätte das jemand anders in Europa gemacht, gäbe es massive Rechtsstaatsbeschwerden", sagte Söder und erneuerte die Ankündigung: "Deswegen werden wir natürlich klagen." In Berlin bekräftige auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt: "Dieses Gesetz muss auch beim Verfassungsgericht überprüft werden."
Der oberbayerische CSU-Bundestagsabgeordnete Andreas Lenz widersprach ebenfalls der Argumentation von Grünen und FDP. "Nicht alles was hinkt ist ein Vergleich…", entgegnete er auf Twitter. "In Bayern wurde bis dato jedes gewonnene Direktmandat zugeteilt – ein anderer Fall wäre mir nicht bekannt."
FDP: "Deutlicher Schritt in Richtung Union"
Nach dem Willen der Ampel soll der Bundestag schon am Freitag das neue Wahlrecht beschließen. Die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP hatten sich erst am Wochenende auf weitreichende Änderungen an dem Gesetzentwurf geeinigt.
SPD, Grünen und FDP wiesen die scharfe Kritik der Union zurück. Die Reform sei "fair und verfassungsfest", sagten SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, Grünen-Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann und FDP-Fraktionschef Christian Dürr übereinstimmend in einem gemeinsamen Auftritt nach den Fraktionssitzungen.
Der überarbeitete Gesetzentwurf der Koalition sehe eine Begrenzung auf 630 Abgeordnete statt wie zuvor 598 vor - das sei ein "deutlicher Schritt in Richtung Union", betonte Dürr in Berlin. Er würde sich wünschen, "dass auch die Union sich bewegt. Immer nur Nein sagen ist keine Option beim Wahlrecht."
Die Wahlrechtsreform soll dafür sorgen, dass der Bundestag nicht immer noch größer wird – aktuell hat er 736 Mitglieder. Die Koalition will dazu der Zweitstimme, mit der die Parteien gewählt werden, mehr Gewicht verleihen. Das kann dazu führen, dass direkt gewählte Politikerinnen und Politiker es nicht in den Bundestag schaffen. Anders als in der vorherigen Version des Gesetzentwurfs ist zudem vorgesehen, dass die sogenannte Grundmandatsklausel entfällt.
Mit Informationen von dpa und AFP.
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