Eine Handvoll Menschen steht im Nieselregen vor der "Speis" in Gunzenhausen und wartet darauf, ihre Lebensmittel für die Woche abholen zu können. Die "Speis" funktioniert ähnlich wie eine Tafel. Wer einen Berechtigungsschein hat, kann hier für einen Euro Lebensmittel bekommen. Still ist es in der Warteschlange. Teilweise haben die Menschen ihre Kapuzen ins Gesicht gezogen. Alle, die hier stehen, wollen vor allem eines: schnell wieder gehen.
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Weniger Lebensmittel und weniger Spenden
Brot, Mehl, Nudeln, ein bisschen Joghurt oder Wurst, manchmal gibt es sogar Schokolade für die Kinder. Einer nach dem anderen kommt in den kleinen Laden und bekommt seine Tüte. Der Käse kann heute nicht packungsweise ausgegeben werden. Es gibt zu wenig. Er wird aufgeteilt. Seit ein paar Monaten bekommt die Speis weniger Lebensmittel. Die Discounter geben weniger ab. Die Menschen spenden weniger.
Aufnahmestopp bei der "Speis"
Lydia Mägerlein hat die "Speis" in Gunzenhausen mit aufgebaut. Vor rund 20 Jahren war das. Einen Teil der Nahrungsmittel kauft die 72-Jährige von Spendengeldern ein. Zwischen 500 und 800 Euro gibt sie dafür jede Woche aus. Obst und Gemüse bekommen sie von Discountern – aber eben immer weniger. Seitdem Lydia Mägerlein die "Speis" zusammen mit einigen anderen Frauen eröffnet hat, hat sich viel verändert.
In den vergangenen Monaten ist die Zahl derer, die Hilfe benötigen, immer größer geworden. Die Zahl der "Speis"-Kunden habe sich verdreifacht, sagt Irene Rottler-Steiner von der Sozialberatung der Diakonie in Gunzenhausen. Nun gibt es einen Aufnahmestopp. Bis Januar. "Es geht nicht anders", bedauert Lydia Mägerlein. Dieser Schritt ist den Verantwortlichen nicht leicht gefallen. Auch bei den Tafeln in Treuchtlingen und Weißenburg können keine neuen Berechtigungsscheine ausgeben werden, berichtet Alexandra Trögl, Kreisstellenleiterin der Caritas im Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen.
Beratung? Oft erst, wenn es zu spät ist
Bei Caritas und Diakonie bekommen Menschen Hilfe, die von Armut bedroht oder betroffen sind. "Menschen kommen oft erst in die Beratung, wenn es einfach gar nicht mehr klappt. Oft ist das viel zu spät", sagt Alexandra Trögl. "Ein Mann kam erst zu uns, als er es nach fünf Tagen ohne Essen nicht mehr ausgehalten hat", erzählt sie.
Arme Menschen im ländlichen Raum wollen nicht auffallen
Auffallen wollen diese Menschen nicht. Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland aus dem Jahr 2010 sagt, dass sich von Armut Betroffene im ländlichen Raum verstecken. "Ihre Devise ist, nicht aufzufallen, beispielsweise durch schlechtsitzende und abgetragene Kleidung", heißt es dort.
Auch die soziale Kontrolle im ländlichen Raum wird der Studie zufolge als belastend empfunden. "Es ist kaum möglich, Arbeitslosigkeit, Notlagen und Armut in einem Dorf geheim zu halten", stellt die Studie fest. "Die Betroffenen schämen sich für ihre Armut", berichtet auch Irene Rottler-Steiner von der Diakonie.
Öffentlicher Nahverkehr ist zu teuer
Wer arm ist und sich kein Auto leisten kann, ist im ländlichen Raum schnell abgehängt. "Ich erlebe immer wieder, dass Menschen, die Facharzttermine in einer anderen Stadt haben, überhaupt nicht das Geld haben, dorthin zu kommen. Im öffentlichen Personennahverkehr gibt es für sie keinerlei Ermäßigungen", beklagt Alexandra Trögl von der Caritas. Sie würde sich wünschen, dass der Staat hier mehr helfen würde. Auch wenn es um die Beschaffung von Lebensmitteln geht. Denn Tafeln seien ein freiwilliges Angebot, das nicht vom Staat unterstützt werde, sagt Trögl.
Die versteckte Armut im ländlichen Raum nimmt zu. Das macht sich auch in der Gunzenhausener Lebensmittelausgabe "Speis" bemerkbar.
Grafik: Teuerungsraten von Lebensmitteln
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Die Entwicklungen der Energiepreise und die Inflation sieht Alexandra Trögl mit großer Sorge. "Fast bei jedem unserer Klienten sind Miete und Nebenkosten angestiegen. Die wissen jetzt schon nicht, wie sie das bewältigen sollen", sagt sie. "Die Armut wird im nächsten Jahr noch drastisch zunehmen", ist sie überzeugt. Das befürchtet auch Irene Rottler-Steiner von der Diakonie. Die Auswirkungen seien jetzt schon spürbar. Ein Rentner konnte bis jetzt kein Heizöl ordern, weil er nicht das Geld dazu hatte. Der Mann wird vermutlich für einige Wochen im Kalten sitzen, weiß Rottler-Steiner.
Mehr Solidarität nötig
Trotz der vielen schwierigen Vorzeichen möchte Irene Rottler-Steiner nicht nur schwarzsehen. Sie hofft, dass wieder mehr Solidarität in der Gesellschaft Einzug hält. "Jeder kann helfen", ist sie überzeugt. Lebensmittel für die "Speis" abholen, im Diakoniekaufhaus aushelfen oder vielleicht die ältere Nachbarin fragen, ob sie auch eine Suppe möchte – das seien einfache Dinge, um zu helfen, etwas zu bewegen und vielleicht jemanden, der von Armut betroffen ist, das Leben ein wenig leichter zu machen.
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