Die russlanddeutsche Community in Deutschland ist gespalten: Die einen schütteln nur noch den Kopf, sind innerlich zerrissen, leiden mit der Ukraine. Sie können nicht verstehen, dass sogar eigene Angehörige eine Regierung unterstützen, die einen Angriffskrieg führt, Städte zerbombt, Menschen in die Flucht treibt.
Die anderen erklären, sie könnten verstehen, wie es dazu kam. Sie geben der Nato und dem Westen eine Mitverantwortung an dem Krieg. Vor der Kamera will sich kaum jemand aus diesem Lager äußern. Zu groß die Angst, für eine "abweichende Meinung" abgestraft zu werden.
Dabei haben russlanddeutsche Menschen ein gemeinsames Schicksal, waren selbst Opfer des Sowjet-Regimes. In der früheren Sowjetunion wurden Deutsche als Minderheit diskriminiert, ihre Vorfahren verfolgt, deportiert und in Zwangslagern ausgebeutet. Über diese Geschichte sei zu wenig bekannt, sagt Julia Steba aus Nürnberg. "Wir brauchen mehr politische Bildung."
Russlanddeutsche gespalten – für oder gegen Putin?
Mit zunehmender Dauer des Krieges wird der Graben zwischen diesen Lagern tiefer, die Verletzungen größer. Bis Ende Februar fühlten sich Russlanddeutsche zumeist zusammengehörig, vereint durch die russische Sprache und eine Vergangenheit in der früheren Sowjetunion. Ob diese in Kasachstan, Russland, Sibirien, Weißrussland oder der Ukraine verlebt wurde, war bisher nicht so wichtig.
Doch plötzlich spielt es eine Rolle, ob die Wurzeln in Kiew oder St. Petersburg liegen. Dabei ist die Community in großen Teilen multi-ethnisch. Es ist keine Ausnahme, einen russischen Papa zu haben, eine ukrainische Mama und eine deutsche Oma. Vielleicht gibt es auch noch einen tatarischen Großvater, einen jüdischen oder polnischen.
Ukraine-Krieg: Spaltung befeuert durch Propaganda
Und die Nachrichten über den Krieg in der Ukraine könnten unterschiedlicher kaum sein. Russische Medien, ukrainische und deutsche Medien berichten extrem widersprüchlich. Wer beide Sprachen versteht, fragt sich, wem zu glauben ist. In Social Media Kanälen machen Fake-Videos die Runde, die in der Community Angst schüren. Von angeblich gewalttätigen Ukrainern, die russischsprachige Menschen in Deutschland bedrohen. Oder vor angeblich vergifteten Bonbons für russische Kinder in Deutschland.
"Man weiß nicht, ob es Fake ist und fragt sich, wie soll ich mein Kind darauf vorbereiten, nicht mit fremden Menschen zu sprechen", sagt Julia Batschurin aus Würzburg. "Es gibt gewisse Leute, die die Situation hochzuschaukeln versuchen", ergänzt ihr Mann Denis. "Die einen ziehen zur einen Seite, die anderen zur anderen. Wenn das so weiter geht, bringt das nichts Gutes."
Gewalttätige Übergriffe? Angst ist größer als die Fallzahlen
Zu gewalttätigen Übergriffen ist es dabei wenig gekommen. Die Polizei in Nürnberg registrierte in den ersten drei Kriegsmonaten nur zwei Handvoll Streitigkeiten, die mit dem Konflikt in Zusammenhang stehen könnten, so ein Pressesprecher. Das ist bei rund 40.000 Russlanddeutschen, mehreren Tausend russischen Staatsbürgern und mehr als 6.000 Ukrainern in der Stadt eine verschwindend geringe Anzahl.
Zwei Scheiben eines russischen Ladens im Stadtteil Langwasser wurden im April eingeschlagen und eine Zeitung vor der Türe in Brand gesetzt. Die Polizei konnte keinen Täter ermitteln. Doch blieb auch dies ein Einzelfall.
- Zum Artikel "Ukraine-Krieg: Russischsprachige Bürger in Bedrängnis"
Streit um Russland-Ukraine-Krieg zieht sich durch die Familien
Der Streit spaltet auch Familien. Dabei sind es oft die Älteren, die russisches Fernsehen konsumieren und "an dem Kreml-Narrativ von der Großmacht Russlands hängen bleiben", sagt Sergej Prokopkin, Jurist und Anti-Diskriminierungsexperte aus Berlin. Die Jüngeren seien häufiger gegen Putin und gegen den Krieg.
Die Familien stellt das vor eine Zerreißprobe. Viele meiden das Thema. Oder haben Kontakte abgebrochen. "Wer Bilder von Kriegsverbrechen in Butscha im Kopf hat, und auf Leute trifft, die das für eine Lüge halten, kann das nur schwer ertragen", sagt Sabine Arnold, Historikerin und Seelsorgerin für Aussiedler in Nürnberg.
Russlanddeutsche überwiegend gut integriert
In Deutschland leben etwa 2,6 Millionen sogenannte Russlanddeutsche. Die meisten kamen seit den 1990er-Jahren aus Kasachstan, Sibirien oder der Russischen Föderation und haben sich überwiegend in Nordrhein-Westfalen (30 Prozent), Baden-Württemberg (18 Prozent) und Bayern (15 Prozent) niedergelassen.
Das geht aus einer im März veröffentlichten Studie des Bundesamtes für Migration (BAMF) über die Integration von Spätaussiedlerinnen und -aussiedlern hervor. Sie leben eher in Kleinstädten als in kleinen Dörfern oder großen Städten, viele haben Wohneigentum. Neunzig Prozent der Einwanderer aus der früheren Sowjetunion identifizieren sich mit Deutschland, 34 Prozent fühlen sich gleichzeitig ihrem Herkunftsland zugehörig.
Trotz Arbeit weniger Geld – großes Problem Altersarmut
Allerdings ist die ökonomische Lage der Migranten aus der früheren UdSSR schlechter als die anderer Bevölkerungsgruppen. Und das, obwohl sie ebenso oft erwerbstätig sind, wie alle anderen. Viele haben Arbeit in niedriger qualifizierten Berufen angenommen, weil ihre Abschlüsse hierzulande nicht anerkannt wurden.
Und ein Umstand alarmiert die Forschenden des BAMF: Die Hälfte der Rentnerinnen und Rentner aus der früheren Sowjetunion ist von Altersarmut betroffen. Sie konnten durch schlechtere Jobs weniger in die Rentenkasse einzahlen. Und Ansprüche aus der früheren Sowjetunion wurden in der Vergangenheit von deutschen Behörden abgesenkt oder konnten von mitgereisten nicht-deutschen Ehepartnern gar nicht erst gestellt werden. "Dies stellt ein nicht zu unterschätzendes gesellschaftliches Problem dar", so die Autoren der Studie.
Der Dokumentarfilm zum Thema "Zerreißprobe Ukraine-Krieg – Russlanddeutsche zwischen allen Stühlen" wird heute (22.6.22) um 22.00 Uhr in BR Fernsehen ausgestrahlt.
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