Der Einsatzbefehl zur Vernichtung des ukrainischen Dorfes Kortelisy
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Shoah-Gedenktag: Vergessene Verbrechen von Nürnberger Polizisten

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Shoah-Gedenktag: Vergessene Verbrechen von Nürnberger Polizisten

Eine Polizeikompanie aus Nürnberg hat während des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa tausende Menschen ermordet. Das Gedenken an diese Verbrechen kommt in der Stadt der Menschenrechte erst jetzt in Gang.

Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee befreit, weshalb alljährlich am 27. Januar der internationale Holocaust-Gedenktag begangen wird. Auschwitz ist längst das Synonym für die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen, insbesondere für die industrielle Vernichtung des europäischen Judentums.

Im Holocaust wurde aber nur ein Teil der Jüdinnen und Juden in den berüchtigten Gaskammern ermordet. Millionen wurden erschossen und erschlagen. Und die Täter waren nicht nur SS-Männer, sondern auch Wehrmachtssoldaten und Polizisten. Eine Polizeikompanie aus Nürnberg hat sich beim deutschen Vernichtungsfeldzug in Osteuropa besonders hervorgetan, doch erst jetzt, fast acht Jahrzehnte später, soll in Nürnberg an die Verbrechen der fränkischen Ordnungshüter erinnert werden.

Das grausame Ende des Ghettos von Brest-Litowsk

Brest-Litowsk am 15. Oktober 1942. Die Bewohner der belarusischen Stadt schlafen noch, als deutsche Einheiten das jüdische Ghetto abriegeln. Sie treiben die Männer, Frauen und Kinder zum Bahnhof. Wer sich wehrt, wird sofort erschossen. Die verzweifelten Menschen werden in Viehwaggons gepfercht, zu einer Massenexekutionsstätte transportiert und ermordet.

Zu den Einheiten, die die Menschen zusammentreiben, gehört auch die Polizeikompanie Nürnberg. "Es waren ganz normale Bürger, Menschen, Polizisten mit Familien", sagt der Nürnberger Historiker Eckart Dietzfelbinger. Er war lange wissenschaftlicher Mitarbeiter am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände. "Es waren keine Bestien. Aber Menschen sind verführbar bis dahin, dass sie Mord und Totschlag begehen."

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Darija Alexandrovna Polivoda überlebte als Zehnjährige das Massaker von Kortelisy

Der Massenmord von Kortelisy

Wenige Wochen vor dem Massaker von Brest-Litwosk löschten die Nürnberger Polizisten etwas weiter südlich eine ganze Ortschaft aus: Das ukrainische Dorf Kortelisy. "Es war am frühen Morgen, meine Mutter weckte mich und schrie: 'Die Deutschen sind im Dorf, die Deutschen. Unser Dorf ist umzingelt’", erinnert sich Jahrzehnte später die Überlebende Darija Alexandrovna Polivoda. "Sie holten die Leute aus den Häusern. Ich war noch kleines Kind. Ich bin dann später hingerannt und ich sah blutüberströmte Leichen, aufgereiht, Kopf an Kopf."

"Unser Dorf wurde durch die Polizeikompanie Nürnberg vernichtet"

Innerhalb weniger Stunden ermorden die Deutschen fast 2.900 Menschen, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder. Inzwischen sind fast alle überlebenden Zeitzeugen verstorben. Doch in Kortelisy ist der Massenmord bis heute sehr präsent. Es gibt ein Mahnmal und ein Museum, das jahrelang von Maria Jaroschuk geleitet wurde. "Unser Dorf wurde durch die Polizeikompanie Nürnberg vernichtet. Bis 16 Uhr dauerte das Morden. Die Überlebenden berichten, dass es anfing zu regnen, es sah so aus, als ob der Himmel über das Schicksal der Menschen weinte."

Nachdem die deutschen Truppen die Menschen ermordet und das Dorf ausgeplündert haben, zünden sie die Häuser an. Jüdinnen und Juden gibt es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Kortelisy, sie sind schon ein Jahr zuvor deportiert und umgebracht worden. Die nichtjüdischen Bewohner werden massakriert, weil die Deutschen sie verdächtigen, Partisanen zu unterstützen.

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Die langjährige Museumsleiterin Maria Jaroschuk blättert im Gedenkbuch. Hier sind die Namen aller Ermordeten von Kortelisy notiert.

Keiner der Täter wird zur Rechenschaft gezogen

Laut dem Historiker Eckart Dietzfelbinger vernichteten die Deutschen bei ihrem Feldzug in Osteuropa rund 70.000 Dörfer. "Es war ein Rassekrieg, ein Vernichtungskrieg. Und es gab zwei Zielgruppen von Menschen, die man liquidieren wollte: Die Politoffiziere und Partisanen und die jüdische Bevölkerung." Und zu den Tätern gehören ganz normale Ordnungspolizisten aus Nürnberg, die in den Osten geschickt und dort zu Massenmördern werden – und die nach dem Krieg einfach zurückkehren nach Franken, um wieder als Polizisten zu arbeiten. Zwar gibt es in den 1960er Jahren staatsanwaltliche Ermittlungen gegen einige der Nürnberger Polizisten, doch letztlich wird keiner je zur Verantwortung gezogen.

Ein Signal aus Nürnberg "ist längst überfällig"

Eine Geschichte aus der man viel lernen könnte über Verführbarkeit in einem totalitären System, auch über das Versagen bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen. Gerade in einer Stadt wie Nürnberg, die sich angesichts ihrer unrühmlichen Geschichte heute als "Stadt des Friedens und der Menschenrechte" bezeichnet.

Bisher allerdings werden die Verbrechen der Polizeikompanie Nürnberg kaum thematisiert. Der Historiker Eckart Dietzfelbinger fordert, dass eine Delegation der Stadt Nürnberg Kortelisy besucht, sich zu den Verbrechen bekennt und entschuldigt: "Ein Signal von Nürnberg an Kortelisy ist längst überfällig im 21. Jahrhundert."

Erinnerung nach acht Jahrzehnten

Derzeit allerdings herrscht Krieg in der Ukraine, eine Kontaktaufnahme ist dementsprechend schwierig. Die Pressestelle des Oberbürgermeisters erklärt auf Nachfrage, die Verbrechen der Polizeikompanie Nürnberg seien zweifellos der Erinnerung wert. Und der Leiter des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände Florian Dierl betont auf BR-Anfrage, dass die Verbrechen der Nürnberger Polizisten in der neuen Dauerausstellung des Dokuzentrums, die 2025 eröffnet werden soll, thematisiert werden sollen: "Zur Vorbereitung wird das Dokumentationszentrum auch Kontakt zu Forschungseinrichtungen vor Ort aufnehmen."

Bei der Polizei ist man übrigens schon weiter. Laut dem Polizeipräsidium Mittelfranken sind die Kriegsverbrechen der Polizei in der NS-Zeit und insbesondere die Verbrechen der Polizeikompanie Nürnberg ein wichtiges Thema im Rahmen der Polizeiausbildung.

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