Nach dem ersten Missbrauchsgutachten der Kanzlei WSW für das Erzbistum München und Freising im Jahr 2010 hatte es fast neun Jahre gedauert, bis es der zuständigen Staatsanwaltschaft vorlag. Der Inhalt dieses Gutachtens: mehr als 200 belegte Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen.
Es ist das Beispiel, das sowohl die Landtagsgrünen, als auch der Sprecher des Betroffenenbeirats der Erzdiözese München und Freising, Richard Kick, heranziehen, um ihre These zu untermauern: Dass die Strafverfolgungsbehörden und ganz pauschal der Staat zu lange zuschauten, wie die katholische Kirche es nicht schaffe sexuelle Gewalt und Vertuschung in den eigenen Reihen aufzuarbeiten.
Staatsanwaltschaften fühlten sich offenbar nicht zuständig
Erst in diesem Sommer war bekannt geworden, dass die bayerischen Strafverfolgungsbehörden sich für die Auswertung der Missbrauchs-Gutachten offenbar vor 2018 nicht zuständig gefühlt hatten. Bayerns Justizminister Georg Eisenreich bezeichnete das Ende Juni als Fehler - und übte damit indirekt Kritik an seinen Vorgängern und CSU-Parteifreunden Beate Merk und Winfried Bausback.
Justizminister: Gutachten haben "begrenzte Bedeutung" für Strafverfolgung
Nach dem zweiten Gutachten von der Rechtsanwaltskanzlei WSW im Erzbistum München und Freising Anfang des Jahres wanderten die Akten dann zwar zu den Strafverfolgungsbehörden - sehr viel kam dabei aber nicht heraus. Eisenreich erklärte, für die Strafverfolgung der unmittelbaren Täter hätten solche Gutachten nur „sehr begrenzte Bedeutung“ - unter anderem, weil viele Fälle verjährt seien. Und mit Blick auf die bundesweite MHG-Studie, in der die Fälle anonymisiert dargestellt worden waren, erklärte er, die bayerischen Generalstaatsanwälte hätten festgestellt, dass sich daraus kein "Anfangsverdacht" ergebe.
Das sieht der Rechtspolitiker der Grünen im Landtag, Toni Schuberl, anders. "Wenn man weiß, dass Person X eine Straftat an Person Y begangen hat, dann kann man doch nicht sagen, das sei eine Ermittlung ins Blaue hinein. Denn dann gibt es Akten, man weiß, wo die zu finden sind, und dann muss die Staatsanwaltschaft doch tätig werden." Schuberl beklagt, die katholische Kirche werde mit "Samthandschuhen" angelangt.
Betroffene fordern: Staat muss aktiv werden
Im Rechtsausschuss des Landtags wollen vor allem die Abgeordneten von Grünen, SPD und FDP heute vom Justizminister wissen, ob die Strafverfolgungsbehörden nicht eine aktivere Rolle einnehmen müssten bei der Verfolgung und Aufklärung von sexuellem Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen.
Das fordern nicht zuletzt Vertreter von Betroffenenorganisationen. Richard Kick, Sprecher des Betroffenenbeirats des Erzbistums München und Freising, etwa ärgert sich, dass der Staat darauf warte, dass Bistümer, Orden und Heime eigene Gutachten und damit Aufklärung lieferten - statt selbst aktiv zu werden: "Da ist so viel Unglaubliches passiert, das ist ja allerhöchste Zeit, dass die Staatsanwaltschaft mal an die Türe klopft und sagt: Wir hätten gerne Akten", so Kick. Er wünscht sich außerdem eine staatliche Anlaufstelle für Betroffene, die wegen ihres Traumas "nicht an eine Kirchentür klopfen" wollten.
Staatsregierung: Aufarbeitung ist "innerkirchlicher Prozess"
Bislang lehnte die Staatsregierung eine von ihr organisierte unabhängige Aufarbeitungskommission sowie eine eigene staatliche Anlaufstelle für Betroffene ab - mit dem Hinweis auf Angebote auch nicht-kirchlicher Träger von Opferberatungsstellen. Und in einer Antwort auf eine Landtagsanfrage der Grünen verweist sie auf die "Unabhängigen Kommissionen zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch" in den einzelnen Diözesen.
Nehmen Ministerien ihren Einfluss zu wenig wahr?
Obwohl die Ministerien grundsätzlich Einfluss auf die Besetzung der diözesanen Kommissionen nehmen können und Experten vorschlagen dürfen, taten sie das bislang erst in drei von sieben bayerischen Diözesen. Auf Nachfrage von BR24 erklärt ein Sprecher des zuständigen Kultusministeriums, die anderen Bistümer seien "schlichtweg nicht nicht auf die Staatsregierung zugegangen, als sie ihre Kommissionen besetzt haben".
Außerdem handle es sich bei den Kommissionen um "innerkirchliche Angelegenheiten, weshalb der Staat auch nicht eingebunden werden" müsse. Für die Landtagsgrünen sind das Belege dafür, dass sich die Ministerien zu wenig interessierten. Warum, das wolle man klären, so die Religionspolitikerin der Grünen-Fraktion, Gabriele Triebel.
Betroffener startet Petition für staatliche Aufarbeitungskommission
Ein Betroffener von sexuellem Missbrauch aus dem oberbayerischen Garching an der Alz hat inzwischen eine Petition gestartet "für die Aufklärung solcher Fälle durch den Staat", wie es in einer Pressemitteilung heißt. Die Petition richtet sich an den Kollegen von Justizminister Eisenreich im Bund: an den FDP-Politiker und Bundesjustizminister Marco Buschmann.
Nach Skandalen im Erzbistum Köln: NRW-Landesregierung will sich einmischen
In Nordrhein-Westfalen hat die Landesregierung nach den Rücktritten der von ihr empfohlenen Mitglieder der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Erzbistum Köln angekündigt, sich einschalten zu wollen. Es gehe darum, eine "Vernetzung zwischen den Aufarbeitungskommissionen in den fünf NRW-Bistümern" anzuregen und Gespräche mit den Aufarbeitungskommissionen zu führen. Sollten sich Ideen für eine Verbesserung der Aufarbeitungsstrukturen ergeben, "so wird die Landesregierung damit an die Bistümer herantreten."
Der Druck wird auch in Bayern größer, je länger sich die innerkirchliche Aufarbeitung hinzieht. "Wenn die Kirche es nicht selbst schafft, muss der Staat klare Verbesserungen einfordern", sagte Bayerns Justizminister Georg Eisenreich im Sommer in einem Zeitungsinterview. Betroffene und Teile der Opposition im Landtag sind der Meinung, dieser Punkt sei längst erreicht.
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