Herbert Achternbusch, Hans Magnus Enzensberger und Barbara Stamm
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Herbert Achternbusch, Hans Magnus Enzensberger und Barbara Stamm

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Rückblick: Bayerns Tote des Jahres 2022

Bayern trauert: Um den Großmeister des Gewimmels. Um einen Weltgeist auf Achse. Um zwei bayerische Filmnarrische, einen U-Boot-Designer, die Mutter Courage der CSU, einen Fuchs, der Wölfe jagte - um nur einige zu nennen. Bayerns Tote des Jahres 2022.

Landtagspräsidentin Barbara Stamm, der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und Filmemacher Herbert Achternbusch sind im Jahr 2022 verstorben. Doch nicht nur um diese bekannten Gesichter aus Bayern wird getrauert. Ein Überblick.

Ponkie: ... sah fern

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Ilse Kümpfel-Schliekmann (* 16. April 1926 † 30. Dezember 2021)

Das kommt jetzt, pardon, etwas spät: Ilse Kümpfel-Schliekmann, bekannt als Ponkie, ist schon in den letzten Stunden des Jahres 2021 gestorben. Wir trösten uns damit, dass Nachberichte schließlich ihr Beruf waren und ihre Berufung, die Spreu vom Weizen zu trennen. Als TV-Kritikerin der Münchner Abendzeitung war die Frau mit den röhrenfernsehergroßen Brillengläsern seit 1956 eine Instanz, eine Art Reich-Ranicki für TV-Junkies, obwohl lange niemand wusste, wer der/die/das eigentlich war - "Ponkie". Der frühere Münchner OB Christian Ude hat sie, wie er zu ihrem 90. gestand, lange für einen "Super-Kerl im Cabrio" gehalten.

Ihre pointiert-boshaften Kolumnen wie "Ponkie sieht fern" waren oft besser als das Rezensierte und enorm populär (und bei den Kritisierten umso mehr gefürchtet). Wenn Helmut Fischer - zeitweise ihr Kritikerkollege bei der AZ und einer ihrer engsten Freunde - in seiner Rolle als "Monaco Franze" eine Operninszenierung mit den Worten "A rechter Scheißdreck war's" kommentierte, hätte das eine Ponkie-Denkblase sein können. Formuliert hätte sie das so freilich nie. Sondern zum Beispiel so (über einen TV-Showmaster): "Er testete den Infantilismus der Kundschaft wie ein Rentner-Dompteur auf Rheumadecken-Kaffeefahrt."

Ali Mitgutsch: Der Gott des Gewimmels

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Alfons Mitgutsch (* 21. August † 10. Januar 2022)

Es gibt Menschen, die meiden Orte wie das Oktoberfest oder Bambergs Altstadt am Samstag: dieses Gewimmel! Eigentlich sind es sogar ziemlich viele - wenn man sie sich an einem Ort vorstellt. Andererseits: ganz ohne Trubel, das haben die Corona-Lockdowns gezeigt, ist es auch fad. Ali Mitgutsch findet in seinen Bilderbüchern den goldenen Mittelweg: überall wimmelt's, aber frei von Gebrüll, Gedrängel und Aerosolen. Zuklappen kann man sie außerdem.

Geboren wurde dieser Ali (anfangs: Alfons Mitgutsch) im München des Jahres 1935. Der erste Impuls zu seinen Wimmelbüchern kam ihm schon früh, als er nämlich vom Riesenrad der Auer Dult nach unten sah und staunte, was da alles los war. So viele Geschichten, und alle auf einmal! Das brachte nicht einmal seine Mutter zustande, die eine wunderbare Geschichtenerzählerin gewesen sein soll. Ihr Sohn, der Legastheniker war, begann daher mit dem Zeichenstift zu erzählen.

1968 erschien im Ravensburger Verlag "Rundherum in meiner Stadt", sein allererstes Wimmelbuch, der Prototyp einer oft kopierten Gattung. Über 70 weitere Mitgutsch-Bücher, Poster, Puzzles und "Traumkästen" - kleine, gerahmte Bühnen - folgten und fanden bis heute mehr als fünf Millionen Freunde. Wer mehr über Mitgutsch erfahren (und sein persönliches Lieblingswimmelbildchen finden) will, muss nur in eines dieser Wunderwerke hineinschauen, denn, so der Künstler: "Jedes einzelne Wimmelbild ist ein Teil von mir."

Herbert Achternbusch: Die bayerische Gegenseele

Geboren als uneheliches Kind, aufgewachsen bei der Oma im Bayerischen Wald. Die Jugend? "Kaum auf der Welt suchten mich Schulen, Krankenhäuser und alles Mögliche heim. Ich leistete meine Zeit ab und bestand auf meiner Freizeit." Einen guten Teil davon verbringt Achternbusch im Wirtshaus und/oder denkend, malend, schreibend, Zigaretten verkaufend, wobei ihm oft zum Heulen ist, indes: "Ich kann nicht weinen. Ich kann nur saublöd lachen."

Bekannt machen den Universaldilettanten Achternbusch seine Filme, die quasi ohne Budget meist mit Laiendarstellern und - nicht unähnlich dem jungen Fassbinder - als Experimente mit großem anarchischem Gestus und wild daherimprovisiert entstehen. Man kann sie bahnbrechend, anstrengend, saukomisch, wirr oder gotteslästerlich finden - Letzteres die Sicht von Ex-CSU-Innenminister Fritz Zimmermann, der Achternbuschs Jesusgroteske "Das Gespenst" die Filmförderung verweigerte.

Rund 30 Filme hat er gedreht, trotzdem, weil: "Kunst kommt nicht von Können, sondern von Kontern." Titel wie: "Bierkampf", "Der Depp", "Die Atlantikschwimmer", "Das Andechser Gefühl", "Wohin?" - Was bleibt? Jedenfalls Achternbuschs längst im bayerischen Sprachschatz aufgehobene Weisheit(en). Er hatte keine Chance, aber er nutzte sie.

Rolf Zehetbauer: ... and the Oscar went to -

Raumschiffe, U-Boote und Paläste: heute lässt sich alles, was auf der Leinwand zu sehen ist, am Computer erzeugen. Früher war das die Aufgabe von Filmarchitekten wie Rolf Zehetbauer. Eigentlich wollte der gebürtige Münchner Häuser fürs richtige Leben bauen, wo es nach dem Krieg auch genug zu tun gab. Ein Zufall verschlug ihn zu den Bavaria Filmstudios: "Da hat Rühmann gerade gedreht und die haben gesagt, bleib gleich da, und ich blieb da."

Schnell bringt er es zum Chefbühnenbildner. Ein frühes Meisterstück: das Filmset zur Fernsehserie "Raumpatrouille Orion", deren Raumstation er mit handelsüblichen Bügeleisen und Bleistiftspitzern in eine glänzende Zukunft schickt: "Wir hatten ja nichts ..." Sieben Jahre später sein größter Auftrag, das Musical "Cabaret" mit Liza Minelli und Fritz Wepper, für das er Berliner Straßenszenen und den Kit Kat Club mit seinen vielen Tischtelefonen gestaltet. Der Film heimst acht Oscars ein, einer geht an Zehetbauer. Die Preisrede des Bayern, der sich hinter der Kamera merklich wohler fühlt, besteht aus einem Wort: "Danke!"

Von jetzt an kriegt Zehetbauer sie alle: Fassbinder ("Lili Marleen"), den (ebenfalls 2022 verstorbenen) Wolfgang Petersen ("Das Boot", "Die unendliche Geschichte"), Joseph Vilsmaier ("Schlafes Bruder", "Comedian Harmonists"), auch Loriot und Otto. Ach ja: das Hacker-Festzelt hat er auch designt.

Gretel und Erwin Eisch: Zwei Leben für Wald und Glas

"Der Himmel fängt am Boden an": Dieser Satz eines kleinen Jungen hat den Glaskünstler Erwin Eisch so beindruckt, dass er ihn in seinem Atelier an die Wand geschrieben hat. Er passt ja auch zu seinem Werkstoff, der aus Irdischem - Quarzsand, Kalk und Soda - gewonnen wird, bei höllischen 600 Grad geschmolzen, schließlich zu himmlisch durchscheinenden Dingen, sozusagen: zu form- und fassbarer Luft ausgestaltet. Er passt auch zu dem bodenständigen Waldler Künstlerpaar, das Erwin und seine Frau Gretel Eisch waren.

Seit dem Mittelalter beherrschen Handwerker im Bayerischen Wald die Kunst der Glasherstellung - auch Eisch ist der Name einer alten Glasbläserdynastie. Die Welt (ge)brauchte Trinkgefässe, Spiegel, optische Instrumente. Den Werkstoff zu zweckfreien Kunstobjekten zu verarbeiten, fiel im großen Stil erst der Studioglasbewegung ein, die in den 1960er-Jahren in den USA und - dank Erwin Eisch, seiner Frau Gretel und ihrer Künstlergruppe Radama - in Frauenau bei Zwiesel entstand. Weltweit bekannt sind beide, er als Glasskulpteur, sie als Glasmalerin und Holzbildhauerin.

Erwin ist am 25. Januar im Alter von 94 Jahren gestorben, seine Frau Gretel (85) am 10. Juni. Wer den Nationalpark Bayerischer Wald besucht, für den sich beide eingesetzt haben, kann immer noch das von beiden mitgegründete Glasmuseum und das Kunstforum "Bild-Werk" in Frauenau besuchen.

Klaus Lemke: Ein Rolling Stone aus Schwabing

Noch so ein Münchner Filmnarrischer. Anders als Achternbusch jedoch weniger in politischer als in erotischer Mission unterwegs. Weshalb Kunst bei ihm nicht (nur) von Kontern, sondern vor allem von Küssen kommt. Klaus Lemkes Filme bringen die Münchner Parallelwelten zum kollidieren - Geldwelt, Schweißwelt, Halb- und Viertelwelt. Statt der Sonne steht die Venus im Mittelpunkt dieser Planetenkonstellationen - im Idealfall die naturgewaltige Cleo Kretschmer aus Wegscheid bei Passau. Es geht lässig zu, manchmal tragisch, und die Beteiligten reden nicht wie Drehbuchtext, sondern wie Menschen.

Sein letzter, von Lemke zwei Wochen vor seinem Tod auf dem Münchner Filmfest präsentierte Film ist eine Art Lebens- und Werkbilanz mit dem schönen Titel: "Champagner für die Augen - Gift für den Rest". Immer noch prickelnd: "Rocker" (1972), "Amore" (1978) und "Der Allerletzte" (1979), in dem Cleo ihren allzu pomadigen Friseur anpflaumt: "Sag amal spinnst du? Ich schau ja aus wie die Ölpest!"

Barbara Stamm: Die Mutter Courage der CSU

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Barbara Stamm

Wäre Bayern unter den sieben von 16 Bundesländern, die schon mal von einer Frau regiert wurden, die bayerische Ministerpräsidentin hätte vermutlich Barbara Stamm geheißen. Über Jahrzehnte war Stamm eine der populärsten Politikerinnen Bayerns - und Antwort auf die Frage, wofür in der CSU das C, das S und das U stehen.

Wobei das C in ihrem Fall auch Courage bedeutete: die Würzburgerin, die abwechselnd in einer Pflegefamilie, im Waisenhaus und bei ihrer gehörlosen Mutter und einem alkoholkranken Stiefvater aufwuchs, ließ sich durch Widrigkeiten nie entmutigen. Mit 32 Jahren zog sie in den Landtag ein, um anderen Menschen in deren Widrigkeiten beizustehen, und gehörte ihm 42 Jahre lang an. Die Oberbürgermeisterwahl in ihrer Heimatstadt konnte sie 1990 nicht gewinnen; stattdessen war sie drei Jahre später CSU-Vizechefin und bald Sozial- und Gesundheitsministerin im Kabinett von Edmund Stoiber.

"Verantwortung übernehmen" im Stamm'schen Sinn hieß, seine Arbeit zu machen - aber auch dies: Als die Opposition nach Fragwürdigkeiten in der BSE-Krise 2001 befand, der Rücktritt der verantwortlichen Minister sei "eine Frage des politischen Anstands und der Kultur", stellte allein Stamm ihr Amt zur Verfügung.

Josef Wilfling: Ein Fuchs auf Wolfsjagd

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Josef Wilfling (* 3. Januar 1947 † 2. August 2022)

"Jeder kann zum Mörder werden" - das war das Credo von Josef Wilfling, dem langjährigen Chef der Münchner Mordkommission: "Die schrecklichsten Morde kommen im ganz normalen Leben vor." 90 Prozent aller Mörder - meistens waren es Männer - hätten keine prekäre Kindheit gehabt, keine Gewalterfahrungen gemacht und bis zu ihrer Tat ein ebenso unbescholtenes Leben geführt wie Wilfling, der im fränkischen Münchberg geboren, 40 Jahre verheiratet war und ein zurückgezogenes Leben führte.

In die Schlagzeilen geriet er eher unfreiwillig - wenn das Mordopfer Sedlmayr hieß oder Moshammer, oder wenn Günther Kaufmann ein falsches Geständnis ablegte. Wilflings Königsdisziplin: das Verhör, bei dem er sich möglichst intensiv in die möglichen Täter hineinversetzte. Man sei mehr Pfarrer als Polizist, sagte er einmal. Seinem Glauben tat die fortwährende Begegnung mit dem Bösen und das Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit nicht gut: Die Zweifel, ob es einen Gott gibt oder nicht, seien bei ihm immer stärker geworden im Lauf der Jahre, sagte er 2012 in der Phoenix-Sendung 'Im Dialog': "Weil ich mich doch immer wieder gefragt habe, wenn es einen barmherzigen Gott gibt, warum lässt er so etwas zu? Und darauf habe ich noch keine Antwort gefunden. Aber wenn ich ihm begegne, dann frage ich ihn mal."

Hans Magnus Enzensberger: Der Weltgeist auf Achse

Bildrechte: picture-alliance/ dpa/dpaweb | epa Viktor Chlad

Hans Magnus Enzensberger (* 11. November 1929 † 24. November 2022)

Der Magnus, so nannten ihn seine Freunde. Ein Universalbayer, geboren in Kaufbeuren, aufgewachsen in Nürnberg, gestorben in München, meist aber gerade irgendwo zwischen Norwegen und Kambodscha unterwegs. "Weltgeist auf Achse", so nannte ihn sein Freund-Rivale Peter Rühmkorf. Ein unruhiger Geist, lebenslang lernfähig und - der Lust oder neuer Einsicht folgend - immer bereit, das Genre oder den politischen Standort zu wechseln.

Unermüdlich schrieb Enzensberger, fast bis 93 - Romane, Radio-Essays, Kinderbücher (darunter den weltweit millionenfach verkauften "Zahlenteufel"), am liebsten aber Gedichte, deren Freiräume er schätzte. Enzensberger übersetzte Shakespeare und Pablo Neruda, er gab die Zeitschrift "Kursbuch" heraus und die legendäre "Andere Bibliothek". Und das alles, wie um Spuren zu verwischen, gern unter schönen Pseudonymen wie Trevisa Buddensiek und Serenus M. Brezengang (ein Anagram zu Magnus Enzensberger).

Manchmal kam er auch aus der Zukunft: In seinem 1987 erschienen Essayband "Ach Europa!" schreibt (er) ein(en) Amerikaner namens Timothy Taylor, der 2006 Europa besucht und uns berichtet: "Sie wissen so gut wie ich, dass die Europäische Gemeinschaft ein Hühnerstall ist, ein Knäuel von immer kleiner werdenden Staaten - wenn man das, worin sich die Europäer eingerichtet haben, überhaupt noch als Staaten bezeichnen kann."

Dass Enzensbergers Werk auf diese Weise ins Unüberschaubare wuchs, störte ihn wenig. Am Ende war er eben der Magnus, lateinisch: "der Große".

Hans Zehetmair: Bayerns Ober-Lehrer

Mit Enzensberger geriet der streitbare CSU-Politiker auch einmal aneinander: 1998, als dieser mit 300 anderen Schriftstellern gegen die nicht zuletzt von Hans Zehetmair angeschobene Rechtschreibreform protestierte. "Die können doch schreiben, wie sie wollen, da sie dichterische Freiheit genießen", gab Zehetmair zurück - um sieben Jahre später dann doch eine Reform der Reform mitzutragen. Was er mit Enzensberger dann doch gemein hatte: die Lernfähigkeit.

Beachtliche 17 Jahre war der frühere Erdinger Landrat Zehetmair Minister für Bildung und/oder Kunst und Wissenschaft im Dienst dreier Ministerpräsidenten - Strauß, Streibl und Stoiber. Jahre, in denen er vom Erzkonservativen, der Homosexualität als "contra naturam, also naturwidrig" bezeichnete, zum eher liberalen Förderer der Fachhochschulen wie auch von Münchens Pinakothek der Moderne wurde. Von 2004 an war er zehn Jahre lang Vorsitzender der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung. Für den aktuellen bayerischen Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) ist Zehetmair bis heute "DER Kultus- und Wissenschaftsminister schlechthin".

Bildrechte: picture-alliance/ dpa/dpaweb | Ronald Wittek

Johann Baptist Zehetmair (* 23. Oktober 1936 † 27. November 2022)

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