In der niederbayerischen Gemeinde Schöfweg bereitet Notfallsanitäter Markus Wagner sein Fahrzeug auf den nächsten Einsatz vor: Er desinfiziert die Trage im hinteren Fahrzeugteil, bestückt den Sanitätsrucksack mit neuen Medikamenten.
Immer bereit sein für den nächsten Einsatz. Es sind nicht viele, hier auf dem Land, aber wenn der Notruf kommt, zählt jede Sekunde.
Hilfsfrist in Bayern: Zwölf Minuten
In Bayern sollen Rettungswagen innerhalb von zwölf Minuten am Einsatzort sein. Die Messung startet, sobald das Fahrzeug in Richtung Notfall aufbricht. Das bayerische Innenministerium hat vorgegeben: Diese sogenannte Hilfsfrist soll in den sogenannten Versorgungsbereichen in 80 Prozent aller Fälle eingehalten werden. Eine Auswertung des Rettungsdienstberichtes 2022 zeigt: Immer weniger Rettungssanitäter können diese Zeit einhalten.
Waren es im Jahr 2012 noch 92 Prozent aller Einsätze bayernweit, sind es im Jahr 2021 nur noch 87 Prozent gewesen.
Anteil der Einsätze, in denen die Notfallrettung die 12-Minuten-Frist eingehalten hat. Vorgegebenes Ziel der Landesregierung ist 80 Prozent.
In Bayern liegt das besonders an den Einsätzen im ländlichen Raum. Die Daten zeigen: Während in den Großstädten über 100.000 Einwohnern aktuell noch 95 Prozent aller Rettungssanitäter pünktlich kommen, schaffen das nur 76 Prozent aller Kräfte in Landgemeinden unter 5.000 Einwohnern – der angestrebte Wert wird also unterschritten.
Die Einordnung der Kommunen basiert auf der Einteilung des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung.
Notfallsanitäter Markus Wagner ist seit über 20 Jahren im Einsatz, sowohl in der Großstadt München als auch in Niederbayern. Er kennt das Problem: Auf dem Land sind es die weiten Strecken. Ist er in Schöfweg im Dienst, ist er für 80.000 Menschen zuständig - verteilt auf drei Landkreise.
Wenn ein zweiter Anruf kommt, muss ein Team aus der Rettungsstelle des Nachbarbezirks einspringen. Die Fahrtzeit zum Notfallort verlängert sich. Keine Chance für die Rettungssanitäter, die 12-Minuten-Frist einzuhalten und die Ersthelfer zu unterstützen.
Immer weniger Rettungsdienste erfüllen die Quote
Das ist kein Einzelfall – nur zwei Drittel aller Versorgungsbereiche in Bayern können die Quote überhaupt einhalten, ein Drittel braucht im Schnitt länger als zwölf Minuten.
Jeder der 26 bayerischen Rettungsdienstbereiche ist in mehrere Versorgungsbereiche aufgeteilt. Die Grafik zeigt den Anteil der Versorgungsbereiche, die die 12-Minuten-Hilfsfrist in 80 Prozent aller Einsätze einhalten.
Doch die langen Wege auf dem Land – sie sind nicht das einzige Problem, wie die Analyse von BR Data und Recherchen des ARD-Politikmagazins report München ergeben. Viele Bundesländer liefern Zahlen, die denselben Trend zeigen: Die Quote wird immer seltener erfüllt.
Direkt vergleichen lassen sich die Werte nicht, denn jedes Bundesland legt selbst fest, wann die Ankunft des Rettungsteams pünktlich war. In Bayern sind es zwölf Minuten ab der Abfahrt des Fahrzeugs. In Berlin etwa sind es nur zehn Minuten – und die Stoppuhr läuft bereits ab dem Anruf bei der Notrufzentrale
Tendenz zeigt sich in ganz Deutschland
Dennoch: Die Tendenzen sind überall gleich. Das bestätigt Robert Pohl von der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft, die auch für Rettungskräfte zuständig ist: Die Dauer und die Zahl der Einsätze sei bundesweit gestiegen. Und das führe dazu, dass die vorgegebenen Rettungszeiten immer weniger eingehalten werden können.
Das krasseste Beispiel: Berlin. Hier ist die Quote bei der Feuerwehr im Jahr 2021 auf 46 Prozent gesunken. Vor fünf Jahren lag sie noch bei 60 Prozent. Die eigentliche Vorgabe, nur bei jedem zehnten Einsatz länger als zehn Minuten zu brauchen; sie wird seit Jahren verfehlt.
Anteil der Einsätze, in denen die Notfallrettung die 10-Minuten-Frist eingehalten hat. Vorgegebenes Ziel ist 90 Prozent.
In Berlin sind nicht die Strecken das Problem, sondern die vielen Einsätze, bei denen eigentlich kein Team notwendig wäre.
Heiko Luther ist Notfallsanitäter in der Hauptstadt und schätzt, in 50 Prozent der Fälle sei ein Rettungswagen eigentlich nicht nötig.
Denn viele Menschen rufen den Notarzt schon, wenn sie sich etwa in der Küche in den Finger geschnitten haben, berichtet Luther. Statt sich um echte Notfälle zu kümmern, fühle er sich manchmal wie ein Taxifahrer, bestätigt sein Kollege.
Leichte Schnittverletzung als Notfall
Für viele Einsätze sei eigentlich der ärztliche Bereitschaftsdienst zuständig, nicht der Notruf. Doch für eine echte Schuldfrage seien die Probleme eigentlich zu massiv – und zu zahlreich, sagt Robert Pohl von der Gewerkschaft: Mangelnde Aufklärung, wann die 112 die richtige Nummer ist, völlige Überlastung der Krankenhäuser und des Medizinischen Bereitschaftsdienstes. Nur an einer Schraube zu drehen und lediglich beim Rettungsdienst etwas zu ändern, das würde nur bedeuten, ein Problem von A nach B zu schieben, betont er. Man müsse zeitgleich alle Systeme im Gesundheitssystem verbessern.
Das Bundesministerium für Gesundheit hält sich bedeckt. Auf eine Anfrage von report München kommt nur eine schriftliche Antwort: Das Ministerium bereite derzeit eine Reform der Notfallversorgung vor. So wolle man die verschiedenen Ebenen zukünftig besser miteinander verschränken. Konkrete Pläne oder gar Termine nennt das Ministerium nicht.
Und bis dahin müssen Rettungssanitäter wie Marcus Wagner in Schöfweg und Heiko Luther in Berlin weiter mit den Problemen bei ihren Einsätzen umgehen. Und hoffen, dass sie alle Notfälle rechtzeitig erreichen.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!