Der mutmaßliche ICE-Messerstecher wird zum Prozessauftakt streng bewacht.
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Der mutmaßliche ICE-Messerstecher wird zum Prozessauftakt streng bewacht.

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Prozess um mutmaßlichen ICE-Messerstecher: Urteil erwartet

Im Verfahren gegen den mutmaßlichen ICE-Messerstecher sind sich Bundesanwaltschaft und Verteidigung deutlich uneinig. Liegt nun eine psychische Störung vor oder doch ein islamistisches Motiv? Heute soll das Urteil fallen.

Gegensätzlicher können die Forderungen der Parteien kaum sein: Im Prozess gegen den mutmaßlichen ICE-Messerstecher fordert die Bundesanwaltschaft eine lebenslange Freiheitsstrafe, während die Verteidigung einen Freispruch verlangt.

Bundesanwaltschaft: Täter handelte als Dschihadist

Der Angeklagte vor dem Oberlandesgericht München lebt seit 2014 in Deutschland. Der 28-Jährige gilt als palästinensischer Volkszugehöriger, ist aber in Syrien aufgewachsen. Im Laufe des Verfahrens wurden unterschiedliche Bilder gezeichnet: Einmal der Mann, geplagt von psychischen Störungen, der nicht wusste, was er tat. Auf der anderen Seite der Dschihadist, der sich am Morgen des 06. November 2021 in den ICE von Passau nach Nürnberg begab, um gezielt Menschen zu töten – "im Sinne eines weltweiten Dschihad", wie die Bundesanwaltschaft meint. Auf vier Personen habe er gezielt mit einem Messer eingestochen und sie teilweise schwer verletzt.

Vorgeworfen werden A. unter anderem versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung. Die Opfer spüren die Folgen bis heute. Ein Mann hatte vor Gericht von Schlafstörungen berichtet. Er habe Albträume und befinde sich nach wie vor in psychiatrischer Behandlung.

Verteidiger: Angeklagter leidet unter paranoider Schizophrenie

Das Münchner Gericht muss nun das Urteil fällen: eher Richtung lebenslänglich oder doch eher Richtung Freispruch? Geht es nach den Verteidigern, Maximilian Bär und Martin Gelbricht, gibt es nur eine Lösung: Der Angeklagte gehöre in eine Psychiatrie. Sie gehen seit Start des Verfahrens davon aus, dass Abdalrahman A. unter einer paranoiden Schizophrenie leidet. Er habe die ihm vorgeworfenen Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen.

Trotzdem erkennt auch die Verteidigung das Leid der Opfer. "Ohne Vorwarnung und Verteidigungsmöglichkeit in einem Zug in aller Öffentlichkeit, völlig willkürlich angegriffen zu werden, ist sowohl für den Einzelnen und sein Sicherheitsempfinden folgenschwer, als auch für die Gesellschaft als Ganzes", sagte Verteidiger Bär, als er das Plädoyer in der vergangenen Woche vortrug. Unmittelbar nach dem medial und politisch viel beachteten Vorfall hatte sich der Angeklagte als krank bezeichnet und wurde zunächst in das Bezirksklinikum Regensburg eingewiesen. Wie Verteidiger Bär BR24 auf Nachfrage sagte, meinte sein Mandant damit einen krankmachenden Dschinn (Dämon) in seinem Körper, der teilweise Macht über ihn habe.

Zudem erinnerte Bär an den Psychiater, der seinen Mandanten als erster untersucht hatte. "Dieser Psychiater sagt unverändert, dass zu dem Zeitpunkt, als er meinen Mandanten begutachtet hat, alle Symptome einer paranoiden Schizophrenie erkennbar waren. Und das hat er auch in der Hauptverhandlung wiederholt." Auch, so Bär, habe sein Mandant mit einem Psychiater der JVA Straubing regelmäßig in Kontakt gestanden. Dieser sei nach Zweifeln der Erstdiagnose ebenso gefolgt. Drei weitere psychiatrische Sachverständige waren sich allerdings zuletzt einig, der Angeklagte sei nicht psychisch krank gewesen.

Bundesanwaltschaft: Dschihadistisches Propagandamaterial

Laut Ermittlern, die vor Gericht aussagten, war unter anderem auf der Facebook-Seite des Angeklagten dschihadistisches Propagandamaterial gefunden worden. Videos mit Predigern etwa, die in einem Fall zum Kampf gegen Europa aufrufen und den Europäern die Schuld an der Zerstörung des syrischen Aleppo geben.

"Er hatte Dateien, in denen zur Begehung von Anschlägen und Tötung von Ungläubigen aufgerufen wurde", sagte Silke Ritzert von der Bundesanwaltschaft. "In der Gesamtschau kann man diesen Dateien entnehmen, dass er Nicht-Muslimen und abtrünnigen Muslimen jegliches Lebensrecht abspricht. Wir gehen davon aus, dass er auf Grundlage dieser Tatmotivation gehandelt hat."

Alles Futter, um den Angeklagten hart zu verurteilen? Er habe die blutige Tat "im Zustand voller Schuldfähigkeit" begangen, sagte Silke Ritzert in ihrem Schlussplädoyer vergangene Woche. Er habe wahllos Reisende als "Vertreter einer offenen Gesellschaft" angegriffen. Eine psychische Erkrankung habe er lediglich vorgetäuscht, um im Falle einer Verurteilung in eine psychiatrische Einrichtung anstatt ins Gefängnis eingewiesen zu werden - sein Kalkül sei aber nicht aufgegangen, so die Vertreterin der Bundesanwaltschaft.

Gläubig oder Terrorist?

Sollte das Gericht eher der Bundesanwaltschaft folgen, wäre der ICE-Fall eindeutig dschihadistisch und würde sich einreihen in die Anschläge der vergangenen Jahre. Das Bundesamt für Verfassungsschutz führt eine entsprechende öffentlich einsehbare Liste, wo Anschläge genannt werden, die es seit 2015 in Deutschland gab. Auch die ICE-Messerattacke wird bereits aufgeführt. Zudem findet sich dort der Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz von 2016 oder die Attacke in Dresden auf ein homosexuelles Paar im Oktober 2020.

Der in München Angeklagte soll sich Zeugen zufolge zurückgezogen und andere Muslime darauf hingewiesen haben, die Glaubensvorschriften einzuhalten. Auch geht aus der Anklage hervor, dass Abdalrahman A. eine Moschee in Passau besuchte, die der Bayerische Verfassungsschutz als salafistisch, also als Teil einer extremistischen Strömung innerhalb des Islamismus, einstuft. Argumente für die Bundesanwaltschaft, um die Radikalisierung des Angeklagten zu unterstreichen. Die Moschee hatte schon vor Prozessstart von Verleumdung gesprochen. Man sei nicht salafistisch. Zudem habe sich der Angeklagte nicht in den Gebetsräumen aufgehalten. Auch die Verteidigung ist kritisch.

"Wir haben außer Anknüpfungstatsachen dafür, dass es sich bei meinem Mandanten um einen strenggläubigen Muslim handelt, keinerlei konkrete Hinweise auf eine Tatplanung. Wir haben keinerlei Einbindung in ein terroristisches Netzwerk", so Bär.

In der Tat konnte dem Angeklagten nicht nachgewiesen werden, Teil eines Netzwerks zu sein. Vielmehr geht die Bundesanwaltschaft davon aus, dass es sich bei Abdalrahman A. um einen "lone Wolf" einen sogenannten Einzeltäter handelt.

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